Eine kurze Reflexion zum Fernweh

in Deutsch Unplugged3 years ago

Mein Großvater war ein Seemann. Er hat die ganze Welt umsegelt und die Geschichten, die er zu erzählen hatte, können mit jedem Abenteuerfilm konkurrieren. Wenn er zu erzählen begann, leuchteten seine Augen, seine Bewegungen wurden schneller und seine Stimme lauter.

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Ich glaube, er hatte Fernweh. Mit jeder Geschichte ging er mit auf die Reise. Es zog ihn sogar im hohen Alter hinaus. Aufgrund familiärer Verpflichtungen und seines Alters musste er aber an Land bleiben. Er liebte Häfen, Schiffe, Leuchttürme und das Meer.

Mir kommt der Gedanke, dass während die einen aus der Ferne mit Tränen in den Augen, am Wasser stehend, an die Heimat denken, stehen Nomaden am Wasser und starren mit Tränen in den Augen auf den Horizont.

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Ist dies nicht irgendwie paradox? Ich kenne das Gefühl des Fernwehs sehr gut. Es hat mich eigentlich immer eher weggezogen, als zurück in die Heimat geführt. Ich denke, dass ich dort eben schon alles kenne.

Gerade in letzter Zeit kommt dieser innere Aufbruchwunsch öfter wieder durch. Ob es wohl so etwas wie ein “Wander-Gen” gibt? Wo kommt es her, das Fernweh und die Lust auf Entdeckungstour zu gehen? Ist es eine Art Flucht vor dem Hier und Jetzt oder ist es eher eine Neugier auf das, was man vielleicht noch nicht kennt?

Heute bin ich zum Strand gelaufen, es hat mich dort hingezogen. Ich wollte unbedingt darüber nachdenken, wieso der Aufbruch zu neuen Ufern manchmal so stark wirkt. So machte ich mich dazu auf, die Spuren einer möglichen Erklärung im örtlichen Sandstrand zu finden. Ich hatte die Hoffnung, durch den Blick auf das weite Meer auf einen klärenden Hinweis zu stoßen.

Nachmittags tapste ich los, bei 24 Grad. Ein herrlicher Sonnentag mit Wolken. Das Wetter wollte mich wohl beim Denken unterstützen und präsentierte sich gleich auf zweifache Art und Weise.

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Und so stellte ich mich mit einem weinenden Auge auf den Horizont blickend, aber auch mit einem lachenden auf die Stadt schauend, direkt an die Wasserkante. Es entstand ein süßsaures Gefühl der Integrität. Es war so eine Art “Wehschön”.

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Ich genoss die “bipolare Integrität” in mir und kam zum Schluss, dass ich so etwas wie ein sesshafter Nomade sein müsse. Ich trage beides in mir und es ist wie so oft im Leben, dass man einen Kompromiss zweier Extreme suchen kann.

Die komplexe Konstruktion unterschiedlicher Möglichkeiten in einem stellt ja vielleicht die wahre Freiheit dar.

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 3 years ago (edited)

Man könnte ja philosophieren, ob die in dir entdeckte Eigenschaft des sesshaften Nomanden nicht bereits ein Idealzustand sein könnte? Einerseits zieht es dich hinaus in Unbekannte und andererseits bist du offensichtlich auch gern wieder in der Stadt, in deiner Stadt.

Ich könnte mir eigentlich nichts besseres vorstellen. Wenn es dich hinaus zieht, neue Gegenden, neue Menschen und neue Erfahrungen zu entdecken, ist es doch beruhigend, einen Ort zu haben, an den man irgendwann - wenn das Nomandenherz befriedigt ist - zurückkehren, seine Eindrücke teilen und Kraft für neue Herausforderungen sammeln kann.

Ja, das bipolare kann auch in Stress enden: Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Aufbruch? Werde ich unzufrieden, wenn ich länger als nötig in der Heimat bleibe? Kehre ich vielleicht zu früh wieder zurück?
Und schon hätten wir "die komplexe Konstruktion". Und da gebe ich dir vollkommen Recht: Das ist wohl die wahre Freiheit!

LG @moecki

Mit dieser Reflexion kann ich gut leben. Du sagst mir das etwas, was mich tatsächlich berührt und bei mir auch den Punkt trifft:-) Thanks.

 3 years ago 

Ein Wander-Gen? Sicher nicht, auch wenn ich gerne behaupte, ich bestehe genau daraus...

Ich glaube, da ist sowohl Prägung im Spiel als auch der jeweilige Charakter. Im Sinne von Persönlichkeitsmerkmalen - Du kennst das sicher aus Deiner Arbeit. Wer eher offen, neugierig und risikobereit ist, strebt natürlich nach immer neuen Reizen und Erlebnissen. Der andere eben mehr nach gewohnten Bahnen und Beständigkeit.

Bei mir trifft der eine Aspekt, der wißbegierig-abenteuerlustige, auf den anderen: Seßhaftigkeit im Sinne eine Lebensmittelpunktes, an dem man Bindungen entwickelt und eine Zugehörigkeit empfindet, kenne ich nicht. Als Kind eines, sagen wir, in diplomatischer Mission ständig Reisenden, war ich bis zu den höheren Schuljahrgängen nur unterwegs. Aus Mangel an Vergleichsmöglichkeiten empfinde ich das übrigens auch nicht als negativ oder schlecht. Genau so habe ich mein Leben später weitergeführt und meine Kinder konditioniert. Bei denen sehe ich aber, daß nur zwei meine nomadische Art für sich angenommen haben und die anderen eher auf Nestbau und Cocooning setzen. Das ist gut so. Wir haben Gestaltungsmöglichkeiten...

Das weinende Auge, das mich aufgrund der seinerzeit neuen Beziehung an einem ungeliebten Ort festgehalten sah, war leichter zu ertragen als jenes, das mich durch Corona-Maßnahmen am Reisen gehindert erleben muß. Auch da gibt es also noch unterschiedliche Qualitäten - Dein Opa wußte das, denke ich...

Interessant. Du hast es praktisch vorgelebt bekommen. Klingt nach Freiheit, da Du scheinbar an nichts klebst.
Wir sind ja trotz Pandemie gereist und wurden allein auf dem Rückflug 19 x kontrolliert. In jeder Ecke stand ein anderes Wesen in Uniform. Für mich war das entmündigend. Es war einfach übertrieben. Es entstand ein Gefühl von Klaustrophobie, obwohl wir auf Reisen waren.

 3 years ago 

Yo. Da fiel mir gerade ein Begriff aus dem Marxismus ein: doppelt freier Lohnarbeiter. Frei im Sinne von nicht versklavt, nicht Eigentum eines anderen. Frei von der Verpflichtung zu arbeiten. Aber eben auch frei vom Besitz an Produktionsmitteln - was die zweite Freiheit ad absurdum führt; er muß halt doch arbeiten, um zu leben...

Ich klebe an nichts und bin unabhängig, meine Zwänge erlege ich mir selbst auf. Ich fühle mich dadurch frei. Nicht sicher. Aber wie wir letztens schon feststellten, ist mir das schnuppe. Ich bevorzuge die Freiheit.

 3 years ago 

Da hast du doch einen tollen Platz, um Fernweh und auch Heimweh pflegen zu können. Mich zieht es auch immer ans Meer und dann komme ich da gar nicht mehr weg. Jedes Mal wenn ich dann wieder los muss, fühle ich mich so melancholisch und sentimental, als dass ich irgendetwas vermissen würde. Ich fühle mich gerade ganz wohl, wo ich bin, aber auch das wird zu einem Ende kommen müssen. Und dann wird in einiger der Zukunft das Fernweh noch lauter rufen tun..

Du verstehst mich!:-)

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