Evakuierung eines Hornissenvolkes

Wir verzeichnen jeden Sommer mindestens ein Hornissennest in unmittelbarer Nähe. Die Völker hausen auf unserem Dachboden oder in einem der vielen Vogelnistkästen in unserem Garten. Bislang ist immer eine harmonische Koexistenz mit den friedlichen Tieren möglich gewesen, wir begrüßen die Anwesenheit von Hornissen sogar jährlich, denn seither ist jede einzelne Wespe ein eher seltenes Phänomen, da diese penetranten, recht aggressiven Insekten stehen auf dem Speiseplan ihrer deutlich größeren Artgenossen an oberster Stelle.

Ein etwas mulmiges Gefühl überkommt einen schon, wenn man von hubschrauberähnlichem Gebrumm aufwacht, weil sich eines der nachtaktiven Tiere durch ein geöffnetes Fenster ins Schlafzimmer verirrt hat, aber mit Hilfe eines Glases und eines Pappdeckels konnte bislang jedes der unter Naturschutz stehenden Raubinsekten unverletzt eingefangen und in die Freiheit entlassen werden. Hornissen sind faszinierende Hautflügler - die dürfen hier wohnen.

Vor gut sechs Wochen jedoch, sorgten unsere Untermieter, deren genauer Aufenthaltsort unbekannt war, für heftige Turbulenzen, so dass wir uns erstmals um Maßnahmen gegen die Hornissen bemühten:
Das Nest muss weg!

Hornissen im Haus

Mal eines der Tierchen im Schlafzimmer, mal eines im Flur. Irgendwann jedoch konnten wir täglich zwei bis drei Hornissen aus unserem kleinen Hauswirtschaftsraum, in dem sich unter anderem unsere Heizungsanlage befindet, retten. Dann lagen auf einmal morgens drei, vier dicke, weiße Wülste auf dem Boden, die wie überdimensionale, jedoch unbewegliche Maden aussahen. Mit einem Papiertuch aufgenommen und unvorsichtig gequetscht, entströmte diesen ein bestialischer Verwesungsgestank.

Deutlich irritiert begaben wir uns auf die Internetrecherche und stießen auf eine hochinteressante Website zum Thema Hornissenschutz, welcher ich die folgenden Weisheiten entnehme.

Im Normalfall sei in Hornissenvölkern die Brutsterblichkeit bis zum Schlupf der Geschlechtstiere im Spätsommer relativ niedrig. Gelegentlich könne die Mortalität der Entwicklungsstadien in einem Nest jedoch deutlich höher sein. Dies fiele häufig dann auf, wenn Hornissenarbeiterinnen vermehrt Larven aus dem Nest tragen, mit ihnen abfliegen und sie in einiger Entfernung achtlos fallen lassen.
Larven würden aus dem Nest geschafft werden, wenn sie krank oder bereits tot sind. Dadurch werde vermieden, dass die bald verwesenden Kadaver der Larven das Hornissennest und seine Bewohner verseuchen.
In Frage kommende Faktoren für eine erhöhte Brutmortalität seien Nahrungsmangel, wenn aufgrund längerer Schlechtwetterperioden nicht genug Beute ins Nest gebracht werden kann sowie Hitzestress bei Völkern, die an stark wärmeexponierten Stellen liegen, schließlich noch Brutkrankheiten oder auch Vergiftungen. ^{(vgl. www.hornissenschutz.de)}

Sehr spannend. Doch wo kamen die Hornissen samt riesigen toten Puppen her? Nach genauerem Hinsehen lag die Vermutung nahe, dass die Tiere sich wohl von irgendwo auf dem Dachboden einen weg durch die Dämmung zum Abgasrohr der Heizung gebissen haben müssen, dessen Deckendurchbruch noch nicht verkleidet ist, was doch nach fünf Jahren mal passieren kann. Problem erkannt, Problem gebannt - kurzum wurde die Öffnung mit etwas Dämmmaterial zugestopft, die verschönernde Restarbeit sowie die Inspektion des Dachbodens auf den Herbst - dann, wenn nur noch die Hornissenkönigin eines Volkes lebt - verschoben.

Heizungsausfall

Ein paar Tage später blieb unsere Dusche kalt und die Heizung zeigte dauerhaft eine Ionisierungsstörung. Der herbeigerufene Monteur entdeckte umgehend ein total verschmutztes Teil, das eigentlich nicht verschmutzt sein dürfte. Möglicherweise läge dies daran, dass das äußere Abgasrohr zum am Dacheintritt nicht ausreichend abgedichtet sei, dafür müsse er dann mal auf's Dach, habe nun aber keine Zeit dafür. Kein Problem, Heizung läuft wieder - auch Rohrabdeckungen können verschoben werden.

Am folgenden Morgen war uns wieder keine warme Dusche vergönnt. Der freundliche Heizungsmonteur erschien prompt, meiner, es bekäme der Brenner nicht ausreichend Luft. Es wäre wohl irgendwas verstopft, er müsse mal "alles" auseinandernehmen. Bis zum "Ach du Sch..." dauerte es nicht lang und uns tat sich das traurige Bild eines Hornissenfriedhofs auf. Irgendwie sind die Tiere zwischen Außen- und Innenrohr gelangt, sind dort in der Abgaswärme verendet oder am CO2 erstickt.
Auf das Dach ginge der Heizungsfachmann aber nicht, solange sich dort ein Hornissennest befände - "Nicht einmal mit Gefahrenzulage", fügte er schmunzelnd hinzu. Keine Frage:
Das Nest muss weg!

Stiche

Der gute Mann schraubte noch etwa eine Viertelstunde bei abgestellter Heizung sämtliche Teile wieder zusammen, bis ich ihn zur Haustür begleitete und diese öffnete. Aus dem nichts traf mich eine Hornisse wie ein hart geworfener spitzer Stein an der Schläfe. "Aua!", ein Blick nach oben und wieder "Ach du Sch...", denn rund um das Abgasrohr kreisten draußen bestimmt 50 aufgebrachte Hornissen! Schnell rein, Tür zu und - zack - erwischte so ein Monsterinsekt den Monteur im Nacken.
Geistesgegenwärtig zerschnitt ich eine Zwiebel, die wir uns freundschaftlich teilten und gegen unsere schmerzenden Einstiche pressten. Während wir uns gegenseitig bekundeten, noch niemals einen Hornissenstich gehabt zu haben und dass diese echt weh tun, sowie alberten, der Monteur möge doch lieber durch die Terrassentür verschwinden, bekam ich plötzlich Atemnot und Herzrasen. "Bleiben Sie bitte noch einen Moment hier. Ich glaube, mir wird schlecht", hörte ich selbst nur noch lallend ausgesprochen.
Na ja, dann kam der Notarztwagen. Zack - hatte der erste Sanitäter seinen Stich eingefangen. Die wilden Handzeichen, die der zweite Sanitäter, der rasch genug ins Haus springen konnte, dem nachkommenden Notarzt zuwinkte, konnte dieser nicht interpretieren und - zack - ihr wisst schon...

Der Notarzt geizte nicht mit Antihistaminikum-Spritzen, wonach es mir, die ich bis dato keine allergischen Reaktionen auf Insektenstiche kannte, umgehend besser ging. Dennoch sollte ich zur Beobachtung dringend mit ins Krankenhaus. Es traute sich bloß niemand mehr raus...
Okay. Bereiten wir den Katastrophenmeldungen mal ein Ende: Die Hornissen beruhigten sich bald, ich war eine Stunde im Krankenhaus, ein Foto von meiner bis zum Platzen geschwollenen linken Gesichtshälfte zeige ich ebenso wenig wie ich den Preis für diesen vergnüglichen Vormittag samt RTW-Reise nenne. Nur eines war klar:
Das Nest muss weg!

Evakuierung

Hornissen und ihre Nester stehen unter strengem Naturschutz. Hat früher die Feuerwehr solche Nester ausgeräuchert (ist doch echte Tierquälerei), müssen die Völker nun umgesiedelt werden. Dies wird aber auch nur genehmigt, wenn Gefahr für Mensch und Haustier von ihnen ausgeht. Und dann muss ein Fachmann ans Werk - in der Regel ist das ein Imker mit zertifizierter Zusatzausbildung.
Zum Glück haben wir mit meinem Stiefbruder Michael einen solchen in der Familie - ich möchte gar nicht wissen, was die drei (!) Stunden Arbeitszeit des Imkers auch noch gekostet hätten.

Bevor er sich empor zu den Hornissen (deren genauen Aufenthaltsort wir immer noch nicht kannten, wohl aber Schornsteinnähe vermuteten) begab, zog Michael sich ziemlich dicke Schutzkleidung sowie Schweißerhandschuhe über und wurde zwecks Befestigung eines Sicherungsseiles von meinem Mann gekonnt mit einem Klettergeschirr vergurtet.

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Anschließend stieg er mit unserem ganz normalen Hausstaubsauger aufs Dach. Zwischen Saugschlauch und Staubfilter hat Michael einen präparierten, mit Baumwolltuch gefüllten und abgedeckelten Eimer installiert. Nun saugte er fast zwei Stunden lang sanft Hornissen ein, bis diese - ihr Nest vor dem Angreifer verteidigen wollend - nur noch vereinzelt unter einer Dachpfanne herausflogen und auch aufhörten, mit Gift zu spritzen (!), da sie durch den Schutzanzug ja nur vergeblich stechen konnten.
Irgendwann deckte Michael die ersten Dachpfannen ab und er erschallte mal wieder "Ach du Sch...!", vervollständigt durch "Wir brauchen gleich einen sehr, sehr großen Karton!" Das Hornissennest war riesig, belegte direkt neben dem Abgasrohr eine Sparrenbreite.

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Nachdem Michael sich vergewissert hatte, dass sich die Hornissenkönigin noch im Nest befindet (der Kapitän verlässt das sinkende Schiff am Ende oder nie - ohne Königin könnte ein durch Angriff "zerstörtes" Volk nicht wieder aufgebaut werden), nahm er das empfindliche Papiergebilde ganz vorsichtig heraus, um es in den sehr, sehr großen Karton zu packen.

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Zum Nest im Karton stellten wir ein Schälchen mit in Wasser aufgelöstem Honig, denn das umzusiedelnde Hornissenvolk sollte während seiner Evakuierungsnacht nicht verhungern. Auf das Honigwasser wurde etwas Grasschnitt gelegt, damit die nahrungssuchenden Hornissen nicht aus Versehen ertrinken. Zuvor musste ich noch ein paar Rollen aus Zeitungspapier basteln. Zum einen sollten diese das Nest polstern, zum anderen könnte es sein, dass einige Arbeiterinnen noch im Karton beginnen, Schäden am Nest zu reparieren. Dafür benötigen sie Material: Holz oder Papier.

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Nun ging es an den gefährlichsten Moment: Die aufgesaugten, sich im Eimer befindenden Hornissen mussten zum Nest in den Karton, der abschließend ganz schnell zugeklebt werden sollte. Dafür stieß Michael eine geringe Menge CO2 in den verschlossenen Eimer, um die Hornissen kampfunfähig zu benebeln, also kurzzeitig zu betäuben.
Ja, die meisten Tiere schliefen, einige summten ganz schwach - es ging keine Gefahr mehr von ihnen aus, sie zogen passiv vom Eimer in den Karton.

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Mein armer Stiefbruder war am Ende so erschöpft, dass er nicht mal mehr etwas essen, sondern nur noch mit der geretteten, recht brisanten Fracht an Bord so schnell wie möglich nach Hause wollte.

Happy End

Am nächsten Morgen erhielt ich eine SMS, in der Michael mir mitteilte, die etwa halbstündige Fahrt zu einem Park mit alten Baumbeständen - dort, wo er evakuierte Völker aussiedeln darf - sei ganz schön unheimlich gewesen, da die aus der Betäubung erwachenden Hornissen immer lauter brummten. Zudem waren Knabbergeräusche am Karton wahrnehmbar, was dem tapferen Imker ein Horrorszenario ausbrechender Hornissen im geschlossenen Wagen vor dem inneren Auge suggerierte.
Doch alles verlief nach Plan. Nach einer Nacht Ruhe öffnete Michael den gut verklebten, aber natürlich belüfteten Evakuierungskarton und zückte sein Handy für eine in meinen Augen spektakuläre Aufnahme, die ich umgehend erhielt. Der Naturschutzeinsatz ist gelungen: Unsere ehemaligen Haustiere erfreuten sich bester Gesundheit und kümmerten sich in ihrem Behelfsnest sogar weiter um ihren als Larven in den Waben pulsierenden Nachwuchs!

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Bilder: Michael & @chriddi

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30.09.2021

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