Persönlichkeitsbildung? Wo? Wie sieht die Zukunft aus? Vielleicht ein schleichender Prozess? VIELLEICHT?!?!

in #deutsch6 years ago (edited)

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Mit diesem letzten Artikel zur Serie „Persönlichkeitsbildung“ möchte ich zu den Gedanken über die Zukunft noch einige Überlegungen hinzufügen.

Hierzu gehört noch die Frustration und die Gegenwehr.

Die Schule ist für die an sie Gefesselten - Schüler wie Lehrer - die Stätte größter Trostlosigkeit. Sie hat sich zu einem pädagogischen Ungeheuer entwickelt. Für die Betroffenen zeichnet sich keine Lösung ab. Schauen wir offenen Auges auf diese Welt, so begegnet uns Unerfreuliches auf der ganzen Linie (wie ich es in der Artikelserie beobachtend beschrieben habe). Niemandem scheint wirklich klar zu sein, worin die Missstände in der Schulwelt begründet sind. Selbst in einem Land wie Deutschland, wo in den letzten Jahrzehnten Milliarden in das Schul- und Hochschulsystem gepumpt wurden und wo von politischer Seite demnächst zusätzliche Milliarden hineingepumpt werden sollen, sind die Missstände kaum zu überbieten.
Auch die größeren Firmen investierten inzwischen

„enorme Summen, um ihren Nachwuchs in Orthographie und Mathematik einigermaßen auf Kurs zu bringen“ (Michael Winterhoff, 2013).

Kleinere Firmen, denen dafür die Ressourcen fehlen, haben das Nachsehen. Nach früheren Recherchen von Winterhoff war bereits 2009 jeder vierte Schulabgänger nicht ausbildungsreif.

Die Schulbildung ist offensichtlich in einer schweren Krise. Anders ist nicht zu erklären, dass kritische Bücher pädagogischen Inhalts dauerhaft boomen,

auch solche, die man getrost der Rubrik Schundliteratur zuordnen kann (Heinrich Kupffer, 1980: „Pädagogischer Kitsch“).

Kritik an der Schule ist seit Jahren richtig schick - und einträglich. Je substanzloser die Kritik, desto einträglicher ist sie offenbar.
Die Krise der heutigen Form der Persönlichkeitsbildung hat inzwischen eine Dimension erreicht, die die Gesellschaft hysterisiert. Die Unsicherheit hinsichtlich des schulischen Lernens und die Unzufriedenheit hinsichtlich seiner Ergebnisse scheint inzwischen ein beträchtliches Ausmaß angenommen zu haben.

„Die Ratlosigkeit der Laien- und Amtspädagogen ist so groß, dass sie…sich schon wohler zu fühlen meinen, wenn das Ungeheuer in die Fesseln der Fachsprache gelegt ist“ (Hartmut von Hentig, 2003).

Die immer hektischer werdenden scheinoptimistischen „Reform“-Aktivitäten verschleiern, dass man aus der Sackgasse Schule nicht herausfindet.
Bei aller immer noch herrschenden blinden Schulgläubigkeit, die in der Gesellschaft allgemein wachsende Freiheitssensibilität bewirkt, dass die Form, in der heute Lernen stattfindet, bei Vielen nicht mehr uneingeschränkt Zustimmung findet. Angesichts der Schulmisere und der offensichtlichen Funktionsdefizite des schulischen Lernens machen sich immer mehr Eltern Sorgen über die Zukunft ihrer heranwachsenden Kinder. Aber sie finden keinen Ausweg.

„Das [pädagogische] Denken muss die Richtung wechseln!“

fordert der Psychiater und Jugendpsychologe Michael Winterhoff (2009).
Angesichts der Fakten muss man ihm zustimmen. Er selbst scheut offenbar einen solchen Richtungswechsel. Er will an der heutigen Form der Persönlichkeitsbildung grundsätzlich festhalten, obwohl er sie aufgrund seiner Berufserfahrung in der Substanz kritisiert.

Mit Blick auf die in den vorausgehenden Artikeln geschilderten Gegebenheiten sieht es ziemlich düster aus mit der Vision einer Persönlichkeitsbildung in Freiheit. Dennoch: es zeigt sich, kaum sichtbar zwar, ein Silberstreif am Horizont.

Der Impuls hin zu freier Selbstbestimmung beim Lernen könnte vielleicht gerade von den Orten ausgehen, die die Gesellschaft zu diesem Zweck eingerichtet hat. Während die für die heutige Bildung Verantwortlichen noch darüber grübeln, wo sie weitere Milliarden für die marode Schulwelt herbekommen sollen, beginnen einige Schüler und Lehrer, diese Welt zu demontieren bzw. ad absurdum zu führen. Der Pädagoge Hartmut von Hentig (2006) beobachtet die

„Abspaltung eines beträchtlichen Teils der jüngeren Generation vom seinerseits verunsicherten Mainstream der Gesellschaft… Die Kinder machen es ihnen (den Eltern und Lehrern) bewusst. Sie entziehen sich den Ordnungen und Maßnahmen, indem sie innerlich wegdriften… oder indem sie sich… widersetzen.“ -

„Die Wirklichkeit verfügt über eine Stärke eigener Art… Es ist, als bliebe dem Kind, da es keinen anderen Weg aus seinem Nest heraus weiß, nur die Wahl, es in die Luft zu jagen“ (John Holt, 1978).

Manchem Heranwachsenden gelingt es, und es werden immer mehr, sich klammheimlich oder offen dem schulpädagogischen Abfüllvorgang zu entziehen, dem verordneten Gebotszwang zu entfliehen, ihre Lerngeschichte zu entschulen. Die zwangsfreie Kommunikation der Jugend über das Internet tut das ihrige. Viele Schüler sitzen ihre Schulzeit nur noch ab. Sie sehen in der Schule keine Bildungsstätte mehr, sondern nur noch eine Behinderung wirklichen Lernens und ihrer freien Lebensentfaltung.
Der eine oder andere Heranwachsende befreit sich selbst von der

„Jugendsklaverei“ (Immanuel Kant),

„schüttelt den Schulstaub ab“ (Max Stirner).

Die Schüler verwildern ganz einfach – nicht zum Schaden ihres Geisteslebens und ihrer Persönlichkeitsstruktur. „Resilienz“ nennen die Psychologen die strapazierfähige seelische Verfasstheit von Menschen, die sich herausfallen lassen können aus den Systemzwängen einer denaturierten Welt.
Das Aufbäumen der Kinder und Jugendlichen wird immer noch gern als „normale Pubertät“ verharmlost. Erst wenn es eine Gewalt entfesselt, die die Welt des „Normalen“ in Angst und Schrecken versetzt, dämmert Manchem, dass die Psychoschublade „Pubertät“ eine vielleicht doch nicht so brauchbare Anfertigung der Entwicklungstheoretiker ist, dass Pubertät vielleicht nicht so sehr mit dem „normalmenschlichen Entwicklungsgang“ zu tun hat, sondern eher mit unserem abendländischen Erziehungssystem und seinen Bildungsusancen. Es gibt bekanntlich Kulturen, in denen so etwas wie Pubertät völlig unbekannt ist.

Die meisten, die sich in die heutige Gesellschaft als kalendarisch Erwachsene einigermaßen integriert haben, sind aufgrund ihrer verknechteten Persönlichkeitsstruktur zur Abwehr unerwünschter Fremdbestimmung nicht fähig. Manche haben sich sogar, ohne dass ihnen das bewusst ist, zu regelrechten Feinden der Freiheit entwickelt. Dennoch wird sich Freiheit auf lange Sicht als entwicklungsbestimmendes Prinzip durchsetzen. Diesbezüglich teile ich den Optimismus des Immanuel Kant.
Das in Bildungsanstalten immer offensichtlichere destruktive Nein vieler Lernender gegen die ihnen oktroyierte Nürnberger-Trichter-Methode ist das erste Wort auf dem Weg in die Freiheit, der erste Schritt auf dem Weg zur Selbstbestimmung. Der Leidensgang des Schulkinds und des akademischen Lehrlings könnte vielleicht sogar zum Erlösungsgang für die geknechtete Gesellschaft überhaupt werden.
Den Jungen wird immer mehr bewusst, dass sie einem

„obsoleten und widersinnigen System“ (Bertrand Stern, 2006)

ausgeliefert sind. Walther Borgius hatte es schon vor ca. 90 Jahren prognostiziert und gewünscht

„Die Emanzipation von der Schule muss das Werk der Schüler selbst sein… Wie kann man diese Emanzipation erwarten? – Nicht durch Gewalt, noch irgendwelchem plötzlichen Akt, geschweige denn von heute auf morgen… Ein einziges Mittel ist ihr [der Schülerschaft, d. Verf.] neuerdings entstanden, das ihr Hilfe verspricht: die Sabotage. Sie wird dereinst das Instrument sein, das der eingekreisten Schülerschaft den Weg ins Freie weist“ (Nachdruck 1981).

Die Sabotage des heutigen Bildungsbetriebs ist ein gangbarer Weg, nachhaltig

„aus der – gewalttätigen und nachweislich unsäglich dummen – Institution Schule auszubrechen“ (Bertrand Stern, a. a. O.).

Die „Experten“ sprechen in diesem Zusammenhang von „Schulrenitenz“. In üblicher Verblendung sehen sie darin eine neue Krankheit. Diese „Krankheit“ könnte allerdings dazu führen, dass der heutige freiheitsfeindliche Bildungskörper eines Tages in sich zusammenbricht.
Die einstweilen angemessene Reaktion auf den schulischen Lernzwang ist Blockade und Sabotage durch die Betroffenen. Eine andere Möglichkeit gibt es für Schüler- und Elternschaft derzeit nicht. Denn das „System“ hat die Pistole in der Hand. Es wird sie aber gegen Kinder und Kindeseltern nur schlecht einsetzen können, auf Dauer jedenfalls nicht. Denn das führte womöglich zu einem derartigen Aufschrei in der Gesellschaft, dass das „System“ hinweggefegt werden könnte.

Die Sabotage zeigt sich nicht nur in spektakulären Gewaltaktionen, sondern vor allem in der stillen Verweigerung vieler Schüler, sich durch die „Lehrpläne“ und die skurrilen Bewertungsmechanismen der Schule drangsalieren zu lassen. Und sie zeigt sich in der Verweigerung einiger Lehrer und Schülereltern, die Kinder der Kälte des öffentlichen Bildungsdespotismus schonungslos auszusetzen.
Die Entwicklung in Richtung Freiheit vollzieht sich schleichend. Der an Schulen allmählich fortschreitende Leistungsabfall der Schüler und die bei den Lehrern zunehmende Tendenz, es mit der Bewertung der Schülerleistungen nicht so ernst zu nehmen, schafft unzweifelhaft größere Freiräume für alternatives Lernen. Auch in der Berufswelt geht man immer mehr dazu über, die Persönlichkeitsbewertung der Schullehrer zu relativieren oder gar zu negieren und sie durch Eingangstests und „Probezeiten“ an den Arbeitsstätten zu ersetzen. Durch solche Entwicklungen könnten die für die Bildung Verantwortlichen eines Tages aus dem Schlaf geweckt und zur Vernunft gezwungen werden.

Wenn einige Feuilletonisten klagend feststellen, dass in letzter Zeit ein „erschreckender Niveauabfall bei der Vermittlung der abendländischen Werte“ im Bildungsbetrieb stattgefunden habe, sind sie im Recht. Wenn sie damit sagen wollen, dass dadurch die „abendländischen Werte“, die ja kernhaft den Freiheitsimpuls in sich tragen, Schaden erlitten hätten, sind sie im Unrecht. Was von ihnen als Verlust der „abendländischer Werte“ gedeutet wird, hat der Freiheit und ihren vorerst nur bescheidenen Ausdrucksformen viel Auftrieb verschafft. Nicht die „Proletarisierung der Bildungswelt durch Massenzuwachs“ bewirkt die Vernichtung dieser Werte, sondern der immer intensiver empfundene Widerstreit, in dem sie zu ihrer Tradierungsform durch Schulen stehen.
Seit Jahrzehnten schmilzt ein

„warmer Tauwind“ (Friedrich Nietzsche)

die Eisblöcke der „abendländischen Werte“ Stück für Stück ab. Schon seit Generationen sollten sie mit Gewalt in die Köpfe der Bildungsobjekte verbracht werden. Der „warme Tauwind“, der seit der Aufklärung unaufhaltsam weht, hat den Widerstreit mit sich selbst, in dem sich die abendländische Bildungsideologie befindet, ans Licht gebracht. Er weht einmal mehr, einmal weniger. Zeitweilig herrscht Windstille. Aber er nimmt immer wieder Fahrt auf.
Eigentlich geht es gar nicht um das Aus der „abendländischen Werte“, die ihre Position über Jahrhunderte hinweg zurecht gefestigt haben. Nicht die Werte an sich stehen zur Disposition, sondern die Form ihrer Tradierung, die Art und Weise, in der sie übermittelt werden. Diese Form steht den „abendländischen Werten“ diametral entgegen. Denn zu diesen Werten gehört die Freisinnigkeit, vor allem der Sinn für die Freiheit im Bildungsprozess.
Dass hier nun das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird und die „abendländischen Werte“ als solche verworfen werden, war zu erwarten. Die Eliten der Gesellschaft, vor allem die, die sich derzeit durch lautstarke Klagelaute hervortun, hatten versäumt, etwas dagegen zu tun. In ihrer übergroßen Angst um den „Verlust der abendländischen Werte“ haben sie auf den Bildungsdespotismus gesetzt, durch den diese mit Gewalt in die Köpfe der Heranwachsenden verbracht werden sollen. Damit haben sie sie im Grunde verraten. Nun müssen sie sich nicht wundern, dass die von ihnen geschätzten Werte unterzugehen drohen, gewissermaßen mit dem Bad auch das Kind ausgeschüttet wird.

Die Freiheit bricht sich ihre Bahn. Sie hat die Kraft der Natur hinter sich. Wenn die institutionalisierte Bildung Freiheit nicht zulässt, setzt sie sich auf die ihr eigene Weise durch, nämlich in stiller Absage, rohestem Übermut oder in Form von Gewalt. Freiheit zeigt sich jetzt so, wie es ihr bislang nicht zugestandenen wurde: in einem

„Ich-will-nicht-mehr“ (Absage)

oder in einem

„Ich-zeig´s-euch-jetzt-mal“ (Aggression und Gewalt).

In Deutschland gibt es schätzungsweise 300.000 Kinder und Jugendliche, die den Schulbesuch konsequent verweigern oder sabotieren (SPIEGEL, Nr. 38/2013).

Heute ist es nur eine Minderheit von Schülern,

„die es…ablehnen, vom Staat und seiner Schule verdummt zu werden“ (Bertrand Stern, a. a. O.).

Nur jene begehren auf, die den Freiheitsimpuls stark in sich spüren. Der Fußsteig ist vorerst noch schmal, den sie sich durch das Dickicht der Unfreiheit schlagen. Aber aus dem schmalen Pfad kann eine breite Straße werden.
An Schulen offenbart sich die Heraufkunft der Freiheit in einer Form, mit der Viele nicht gerechnet hatten und die bisher oft noch nicht einmal wahr- bzw. ernst genommen wird. Menschen, die von der eigentlichen Freiheit, nämlich der des Willens (zum Nachlesen in den Anfängen dieser Serie) nichts wussten oder nichts wissen wollten, bekommen deren Hervorbrechen jetzt Zug um Zug zu spüren.
Fast alle Theoretiker der Freiheit sind perplex. Sie reiben sich angesichts der Vorgänge in der Bildungswelt entsetzt und verwundert die Augen. Offenbar haben sie Freiheit bislang nur immer als „Freiraum“ verstehen bzw. gelten lassen wollen, den eine Obrigkeit zu gewähren habe. Nun sehen sie sich plötzlich mit jener Freiheit konfrontiert, die man sich nimmt, weil sie einem zusteht (kraft Naturrecht! ), bei der man nicht wartet, dass und ob sie einem gegeben wird. Sie sind hilflos angesichts der Tatsache, dass sich Freiheit selbst Macht verschafft. Denn Freiheit ist nicht nur „negativ“ (wie ich es bereits beschrieben habe). Sie ist auch „positiv“ als Freiheit des Willens, unter Umständen sogar eines sehr mächtigen.

Der angesehene und meines Erachtens überbewertete Freiheitstheoretiker Theodor Adorno bespöttelte die Willensfreiheit in seiner Negativen Dialektik noch als ein bloßes „Als-ob“.

Weil die intellektuellen Wortführer und Ideologieeinbläser der Gesellschaft es trotz mannigfacher Anmahnung bis heute nicht für nötig erachten, neue Formen freiheitlichen Zusammenlebens zu diskutieren, sind sie nun an den Jugendbildungsstätten mit

„Rücksichtslosigkeit und Leistungsverweigerung“ konfrontiert (Michael Winterhoff, 2013).

Viele Heranwachsende widersetzen sich inzwischen jener Art von Erwachsensein, das man öffentlicherseits von ihnen erwartet. Sie wollen einfach nicht mehr in die Passform hinein, die ihnen von den „Eliten“ der Gesellschaft und der an sie Glaubenden aufgezwungen wird.
Solange die Schulbildungsideologie noch so viele Stützpfeiler in der Gesellschaft hat wie heute, wird der Beginn einer freien Persönlichkeitsbildung aus einer Gegenposition heraus wachsen müssen. Das ist vielleicht der Beginn eines Heilungswegs. Wo Bildung eine Fehlbildung war, ist der erste Schritt der Heilung Rückbildung.
Von den Auswirkungen des Bildungsdespotismus kann sich derzeit jeder nur selbst befreien: durch „Entschulung“ seines verschulten Geistes.

„Entschulung ist… die Grundvoraussetzung jeder Bewegung für die Befreiung des Menschen“, meint Ivan Illich.

Und mit einem Seitenhieb in Richtung der Schul-„Erneuerer“ fügt er hinzu:

„Viele, die sich [im Hinblick auf schulische Bildung; d. V.] als Revolutionäre ausgeben, sind Opfer der Schule. Sogar die ‚Befreiung’ sehen sie als Produkt eines institutionellen Verfahrens“ (2003).

Ekkehard von Braunmühl (1975) meint zurecht:

Jeder trägt das Potential der Selbstbestimmung in sich. „Fremdbestimmung versucht nur, die Selbstbestimmung des Individuums für ein diesem fremdes Interesse in Dienst zu nehmen“.

Es ist nun am einzelnen Menschen, dies zu durchschauen, es zuzulassen oder nicht. Wenn er sich einer Fremdbestimmung unterwirft, ist das letztlich seine Sache.

Doch dadurch rückt in weiter Ferne: die Vision einer freien Bildung

Wenn schon keine Hoffnung besteht, dass Schulen abgeschafft werden, was könnte dennoch geschehen, um der Freiheit der Persönlichkeitsbildung Raum zu verschaffen? Everett Reimer(1972) hat die beiden dafür wichtigsten Voraussetzungen benannt:

    * Entbindung der Heranwachsenden vom Schulzwang
    * Abschaffung des Prüfungs- und Bewertungswesens am Ende eines Bildungsgangs

Durch die erste Maßnahme würde der individuellen Freiheit im Bildungsprozess wieder Raum verschafft: durch Zulassung alternativer Bildungsmöglichkeiten. Gäbe es keinen Schulzwang mehr, würden in den Klassenzimmern nur noch diejenigen hocken bleiben, die oder deren Eltern sich vom Stil des schulischen Lernens angezogen fühlen.
Die zweite Maßnahme würde erlauben, dass Schulausgangstests durch Eingangstests ersetzt werden, die vor die Tore der folgenden Lebensphasen (z. B. an Berufsausbildungsstätten) zu verlagern wären. Dadurch wäre jedem Lernenden die Chance eröffnet, sich in aller Freiheit und auf beliebigem Wege für die Eintrittsbedingungen zu einer bestimmten Form von Gesellschaftlichkeit (s. B. in der Berufsausbildung oder in der Arbeitswelt) vorzubereiten. Die Chance wäre umso größer, je weniger die Prüfungswiederholungen und Prüfungsvarianten eingeschränkt würden. Die heute sogenannten „Lernschwachen“ und „sozial Benachteiligten“ haben dann wesentlich weniger Probleme, sich in das Berufs- und Erwachsenenleben zu integrieren.
So schlicht die beiden von Reimer vorgeschlagenen Maßnahmen auch erscheinen mögen, ihre Auswirkungen wären enorm. Die Persönlichkeitsbildung als Schulbildung würde zusammenbrechen. Das Berufsfeld Pädagogik müsste sich ganz neu positionieren. Die Wirtschaft müsste umdenken. Für die Lernenden insgesamt wären Reimers Maßnahmen ein Gewinn, vor allem ein großer Schritt in Richtung Freiheit. Die ganze Gesellschaft könnte sich erneuern. - Aber so etwas liegt in weiter Ferne.

Kommen wir zum Schluss noch einmal zurück auf den in der Einleitung des in den Anfangsartikeln zitierten Aphorismus.

„Ich muss nichts werden und brauche nichts zu bleiben.“

Der Aphorismus wird einem ehemals fahrenden, inzwischen vielfach sesshaften Volk zugeschrieben, den in den mitteleuropäischen Ländern verstreut lebenden Jenischen. Die Ursprünge dieser über Jahrhunderte Heimatlosen sieht man in den durch den Dreißigjährigen Krieg entwurzelten und verwilderten Volksgruppen, versprengten Soldaten und Marketenderinnen, besitzlos gewordenen Bauern, verarmten Bürgern, verwaisten Kindern.
„Ich muss nichts werden“, heißt es. Wir wissen jetzt: Ein auf das Werden eines Menschen bezogenes Muss läuft stets auf Gebotszwang (Nötigung) hinaus: Hier ist die Vorgabe für dein Wachstum, nun richte dich danach! Die Aussage des ersten Teils des Aphorismus ist aber:
in Bezug auf das Werden eines Menschen soll ihm Gebotenes nicht aufgezwungen werden. Das schließt nicht aus, dass er das ihm Gebotene freiwillig in seinen Werdegang einbezieht. Damit sind wir beim zweiten Teil des Aphorismus:

„Ich brauche nichts zu bleiben“.

D. h. der Mensch kann sich ändern und all das werden, was er werden will.
Nehmen wir beide Teile des Aphorismus zusammen, dann ergibt sich:

Der Mensch (das Kind) muss nicht, aber kann und darf etwas werden.

Es kann und darf werden, was er (es) jetzt noch nicht ist, und zwar das, was er (es) will und auch auf dem Weg, den er (es) selbst gewählt hat. Das schließt jeden Gebotszwang aus. Und ein Verbotszwang rechtfertigt sich dann - und nur dann(!) - wenn das Werden der Anderen durch den eigenen Entwicklungs- und Ausdehnungsdrang unstatthaft behindert wird.

Bei einer kindgerechten Pädagogik drängt niemand das Kind, etwas anderes zu werden als das, was es nunmehr ist. Es ist ihm sogar freigestellt, ob es überhaupt jemals etwas anderes werden will. Wahrhafte Freiheit des Geistes ist erst dort, wo man den Menschen das Recht zugesteht, unwissend, unterentwickelt und verwahrlost sein zu dürfen! Wo soll hier das Problem liegen? In einer wirklich entwickelten freien Gesellschaft haben die Menschen alle Möglichkeiten – auch diese. Sie müssen aber auch die Folgen ihres So-seins ganz allein ausbaden. Also warum sollten sich andere um ihre Geistesbildung und ihr Leistungsvermögen das Hirn zermartern? Warum sollten sie sich allerlei Tricks ausdenken, um die Unwilligen zur „Bildung“ zu bewegen? Der Geist eines Menschen ist das Lebendigste, was er nur haben kann. Verliert er den Geist, verliert er sich selbst. Versäumt er hingegen irgendein Wissen, verkleinert sich nur der Umfang seiner Lebensmöglichkeiten.
In einer freien Bildungswelt ist immerhin zu erwarten, dass viele junge Menschen die Chance ergreifen, „etwas“ zu werden. Das muss nichts Großes sein. Aber es sollte etwas Echtes sein.

„Möglich, dass ich aus mir sehr wenig machen kann; dies wenige ist aber alles und ist besser, als was ich aus mir machen lasse durch die Gewalt anderer, durch die Dressur der Sitte, der Religion, der Gesetze, des Staates usw.“ (Max Stirner, 1842).

Welchen Weg ich bei meiner Bildung beschreite - so die Folgerung aus dem jenitischen Aphorismus -

sollte mir mein und nur mein Schicksal aufgeben. Mein Schicksal bestimmt die „natürliche Spur“ (André Stern, 2013),

auf der ich mich fortbewege. An mir ist es dann, die passenden Antworten auf die vom Schicksal gestellten Fragen zu finden, und zwar selbst, zumindest aber nur unter Anleitung der von mir selbst gewählten Vorbilder.
Der jenitische Aphorismus erweist sich als ein Fanal freier Persönlichkeitsbildung. In dem Fanal begegnet uns eine ganz andere Vision über die Art des Heranwachsens von Menschen als die, die wir aus unserem heutigen Alltag kennen und an die wir uns gewöhnt haben. Der Aphorismus dokumentiert, so könnte man sagen, die Quintessens freier Bildung. - Es scheint, als hätte eine in der europäischen Öffentlichkeit einstmals geschmähte, randständige Bevölkerungsgruppe (über Jahrhunderte hinweg als Bande von Dieben, Räubern und Gelichter verschrien) den Impetus freier Bildung sicherer erspürt als alle heutigen „Reformer“ zusammengenommen. Der Aphorismus liest sich wie ein Gegenentwurf zum schulischen Lernen. Er provoziert das Nachdenken über die Schule und ihre Eignung als Bildungsstätte für den freiheitsbegabten Menschen.

Sollte es ein Mysterium bleiben, warum wir trotz größtem materiellen Aufwands für unsere Bildung immer mehr heimliche, linkische manchmal auch offene Verweigerer unter den Lernenden haben, zuweilen auch aggressive

„Monster“ und „Tyrannen“ (Michael Winterhoff, 2009)?

Sollte es ein Mysterium bleiben, dass wir immer mehr

„Misanthropen“, „Berufsphobiker“ und „Burnouts“ unter den Lehrern finden (Ursula Rogg, a. a. O.)?

Und nicht zuletzt:

Sollte es ein Mysterium bleiben, warum wir immer mehr Depressive, Neurotiker und Alkoholiker sowohl unter den Lernenden als auch unter den Lehrenden wahrnehmen (Hermann Rosemann, 1978)?

Stellen wir uns ruhig einmal vor, was passierte, wenn wir unseren Nachwuchs nach den Maximen einer wirklich freien Bildung aufwachsen ließen, also frei von irgendwelchen „Lehrplänen“, frei von vorgegebenen Lernrhythmen, frei von organisierten Lernsituationen, frei von extrinsischer Motivation, frei von oktroyierten Gebotszwängen und eingeschränkt nur durch jene Zwänge, die die Freiheit der Anderen schützen. Ist diese Vorstellung so schrecklich, dass man sie verteufeln müsste? Schwingt nicht in jedem von uns ein wenig Wehmut mit, dass er nicht selber so aufwachsen durfte wie André Stern? Dass er dann vielleicht die eigenen Lebensziele viel früher hätte finden und viel erfolgreicher hätte verfolgen können?

Mit diesen Freiheitsgedanken möchte ich mich von Euch verabschieden und wünsche noch einen schönen und sonnigen Sonntag

Euer Zeitgedanken

Wer sich für diese Serie, die heute den Abschluss findet, interessiert, dem seien die vorherigen, kumulierend aufgebauten, Beiträge in nachfolgenden Links eine Hilfestellung:
https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-in-den-schulen

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-in-der-schule-und-unsere-kinder

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-in-der-schule-und-unsere-kinder-als-kollektiv

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-in-der-schule-und-unsere-kinder-als-kollektiv-fortsetzung

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-in-der-schule-und-unsere-kinder-als-kollektiv-ein-zwischenfazit

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-in-der-schule-und-unsere-kinder-als-kollektiv-die-schulpflicht-und-mehr

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-was-ist-eine-freie-persoenlichkeitsbildung

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-was-ist-eine-freie-persoenlichkeitsbildung

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-bildung-in-freiheit-zur-freiheit

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-freie-bildungsstaetten

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-lehrhaeuser-als-jugendbildungsstaetten

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-lehrhaeuser-als-jugendbildungsstaetten-ergaenzende-gedanken

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-heute-schauen-wir-nach-der-emotionalen-basis

https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/persoenlichkeitsbildung-wo-wie-sieht-die-zukunft-aus

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Danke für diese monumentale Beitragsreihe.

Vielen Dank. Es freut mich sehr wenn diese Serie Anklang finden konnte.

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