Kennen wir uns? - Über Andere und einen selbst ...
Ein Mann springt von diesem Kirchturm. Er schlägt direkt vor den Treppen auf und hat so sein Leben beendet. Ein paar Tage später findet sich an eben jener Stelle ein kleiner Altar aufgebaut, Blumen, eine Andacht, ein Schreiben der Hinterbliebenen. Es war ein Vater, der eine Frau mit zwei Kindern hinterlassen hat.
In den Köpfen der Menschen, die Blumen und Kerzen vorbei gehen, spielen sich Szenarien ab. Viele sind dabei, sich eine Meinung zu bilden, ein Urteil zu fällen. Kommentare sind zu hören von Leuten, die diese Person gar nicht kannten. Sie sind teils hartherzig, teils voller Unverständnis, manche schütteln einfach nur den Kopf und gehen weiter. Wie konnte man nur ... Aber nicht jeder reagiert so, zum Glück.
Es gibt Geheimnisse. Fragen, auf die niemand eine Antwort hat. Seine Familie hat vielleicht manches darüber gewusst, wie es um Papa steht, was mit ihm los ist - vielleicht aber wusste auch niemand etwas davon. Was wissen wir schon! Vor allem wir, die wir diesen Menschen nicht kannten.
Solche und andere tragische Ereignisse, wie auch der sogenannte Schienensuizid, sind extreme Beispiele. Im Zug ist Gemaule angesagt, wenn sich jemand davor geworfen und so die Termine und Vorhaben aller Insassen zunichte gemacht hat. Jeder kann sterben, wie, wann und wo er mag - solange er die Lebenden nicht am Leben behindert.
Versuchung
Wir alle sind bemüht, unser Gegenüber einzuordnen, es einschätzen zu können. Mit wem haben wir es zu tun? Die Geschwindigkeit mit der wir das tun, ist teils sehr unterschiedlich. Die Natur hat es uns jedoch eingegeben, sich damit nicht all zu viel Zeit zu lassen. Denn jeder Mensch ist zunächst eine Gefahr für uns. Doch die Gefahr, die jemand darstellt der uns unbekannt ist, muss nicht direkt eine Bedrohung auf unser Leib und Leben sein. Auch Nähe kann einem gefährlich werden. Aber nicht etwa, weil der Andere wirklich bedrohlich ist, sondern weil wir ein Problem damit haben, wenn das Gegenüber gewisse Ängste nicht mit uns teilt.
Ich zeige dir, woran du an mir bist! - Anderen Menschen auf diesem Weg zu begegnen, ist nicht einfach. Es setzt voraus, das man bereits gute Kenntnis davon hat, wer man selber ist. Wenn ich weiß, wo meine Schwächen liegen, wenn mir klar geworden ist, wie angreifbar und verletzlich ich bin, wie fehlbar - dann kann ich versuchen, meinen Frieden damit zu machen. Ich lerne, was Demut ist, was Menschlichkeit und ein Mensch zu sein heißt. Die Angst vor Anderen ist also erst einmal geprägt und bestimmt von der Angst vor mir selbst.
Realität
Virtuell - ist das nicht auch real? Der Begriff ist dehnbar. Ein Computerspiel kann für mich virtuell sein, für jemanden Anderes aber sehr real. Es ist eine Frage der Perspektive und von Fähigkeit. Hat jemand ein Bein verloren, schaltet das Gehirn lange Zeit nicht auf diese Realität um. Phantomschmerzen treten auf in einem Bereich, der gar nicht vorhanden ist. Eben niemand kann sich von der Tatsache lösen, wie wir beschaffen sind und das wir betrogen werden von uns selbst, aus Gründen, für die wir mitunter gar nichts können!
So kann ich selbstverständlich denken, ich würde jemanden kennen und mich doch fatal irren. Den richtigen Schalter umzulegen, nicht den anderen dafür verantwortlich zu machen, sondern mich selbst - das ist wirklich schwer. Schließlich habe ja ich mich geirrt und nicht der Andere. Leider gelingt genau das viel zu selten. Man will es selber nicht gewesen sein. Der andere ist der Arsch. Der andere hat sein wahres Gesicht gezeigt. Ich zeige mit dem Finger überall hin, nur nicht auf mich selbst.
Tja, wenn es wirklich so einfach wäre. Aber es gibt Menschen, für die ist das so. Jeder lebt eine eigene Realität. Man kann niemanden von einer anderen überzeugen. Man kann nur hoffen, das man einen Konsens findet: Wir alle sind Lügner, weil wir Menschen sind.
Sehr schön geschrieben mein Lieber.
Ich frag mich manchmal, gut oft sogar, wer ich selber bin...wenn nicht mal ich mich kenne, wie soll ich dann andere kennen oder gar so vermessen sein und über andere Urteilen?
Und ja, wenn wir von anderen enttäuscht sind, haben wir uns eben getäuscht oder täuschen lassen. Ich erlebe es immer so, dass man sich irgendwie auch täuschen lassen wollte, weil man einem Bild nachjagte, dass es nicht gibt.
es gehört in meinen augen dazu, das man sich nie sicher ist. jemand der meint, er wüsste bescheid, macht einfach nur den sack zu und strebt an, endlich seine ruhe zu haben. dieses flirren und eine beständige unsicherheit sind gesund. wohlgemerkt, wir reden vom mensch sein und nicht von mathematik :-) lg
Ja :) Sehe ich auch so wie du <3
Für mich der Schlüsselsatz, und er ist sooo treffend formuliert.
Denn "beeinflussen" wird eine solche Entscheidung sicher andere Menschen, vor allem die Angehörigen.
Wenn es denen dann gelingt, das andere, das geänderte, das neue Leben als Chance zu begreifen, geht es nicht nur weiter, sondern voran.
Diese Erkenntnis braucht manchmal quälend lange...
dazu ergänzend das ereignis, das mir von einem kollegen erzählt worden ist: er ist spazieren gewesen, mitten in konstanz, seinen sohn schiebend, der im kinderwagen geschlafen hat. er ging am münster vorbei und nur drei meter hinter ihm schlug plötzlich ein mensch auf das pflaster, der sich eben vom turm gestürzt hat. der punkt ist hier ein anderer, als der der mir in meinem post wichtig ist. aber auf den satz bezogen, ist dass das schlüsselereignis. man möchte sich nicht im traum ausmalen, was passiert wäre, hätte dieser mensch noch andere in seinem anliegen mit in den tod gerissen...
Sehr gut geschrieben. Wie du geschrieben hast, leben wir alle in unserer eigenen Realität, aber es gibt gelegentlich diese kurzen Momente, in denen wir eine Realität teilen. Das sind z.B. außergewöhnliche Sportveranstaltungen oder Musikkonzerte, wenn etwas Besonderes in der Luft liegt. In diesen seltenen Fällen kann man die Energie des Mitmenschen spüren, und ich liebe diese Momenten.
und doch ist es recht häufig, das zwei menschen ganz unterschiedlich vom selben ereignis sprechen. menschen sahen gemeinsam einen film, wie eine beziehung etwa und doch ist die wahrheit jedes einzelnen am ende eine ganz andere. lg
Der Versuch der Selbsteinschätzung, dabei auch noch bei klarem Verstand zu sein, muss im Ergebnis in seiner Subjektivität immer an der Fehleinschätzung kratzen.
Damit sind wir dem Betrug schon recht nahe.
Als ich erstmals auf den Balkan kam, noch auf Übersetzer angewiesen war, mied ich so gut wie jeden privaten Kontakt, um nur ja keine Missverständnisse zu provozieren.
Ein Grund mehr für mich die Sprachen mit Gier aufzusaugen. Als der Dolmetscher nur noch bezahlte Staffage war und ich langsam verstehen konnte, welches Bild sich die Menschen, die ich fast Tag für Tag getroffen hatte, von mir zurechtgelegt hatten, war mir klar, warum es Fremde auch in Deutschland oder Österreich schwer haben.
Dieses, voller Vorurteile gefertigte Bild von mir, auch nur ansatzweise mit ein paar Pinselstrichen zu verändern, brauchte viele, viele Jahre.
Wobei nicht unerwähnt bleiben sollte, dass der vergleichbare Fehler auch von mir begangen wurde.
Was den Freitod betrifft und dessen subjektiver Aufarbeitung durch Gaffer und Passanten, ist jeglicher Kommentar sinnlos.
Doch
ist wohl so gemeint, dass sein selbst gewähltes Abtreten keine weiteren Opfer fordert.
Tatsache ist jedoch, dass eine solche Entscheidung so manchen Hinterbliebenen für Jahre scheintot erscheinen lässt.
Ich weiß, eine viel zu kurze Antwort zu einem solch komplexen Thema. Aber irgendwie sehnt sich der Kopf nach einem langen Tag nach einem Lächeln. Zeit sich meiner Frau zu widmen.
Gruß, Wolfram
Thank you for your continued support of SteemSilverGold
Hello, as a member of @steemdunk you have received a free courtesy boost! Steemdunk is an automated curation platform that is easy to use and built for the community. Join us at https://steemdunk.xyz
Upvote this comment to support the bot and increase your future rewards!