Allein unter Fußballfans
Als Volleyballspieler ist man einen gepflegten Ballabtausch
gewohnt.
Durch das Netz, welches das Spielfeld trennt, ist man
einigermaßen vor Übergriffen der gegnerischen Mannschaft
geschützt.
Volleyball ist ein recht übersichtliches Spiel.
Auf Tournieren sind die Fans recht freundliche.
Der Beifall und die euphorischen Stimmungsmomente sind
gemäßigt.
Vor und nach den Spielen gibt es wenig Konflikte.
Allseits wird die gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg
vollumfänglich ausgeübt.
Ein verständnisvoller Umgang unter den Fans findet in der
Halle statt.
Das emphatische Verständnis untereinander erleichtert den
gepflegten Austausch.
Das heißt, meistens . . .
Bis auf ein paar seichte Zwischenbeben verlaufen die
Volleyballspiele in einem geordneten Rahmen.
Letztes Wochenende benutzte ich die S-Bahn auf meiner
Rückreise.
Ich bereitete mich auf eine ruhige, angenehme und
behagliche Bahnfahrt vor.
In meiner Ahnungslosigkeit übersah ich leider
die Eruptionssäulen, welche bereits aus einigen
Bahnwaggons aufstiegen.
Ich setzte mich also auf einen Viererplatz,
nichtsahnend dass ich diesmal an einem praktischen
Versuch für experimentelle Vulkanologie teilnehmen
sollte.
Ich memorierte gerade friedlich über mein letztes Müsli,
als sich erste seismische Wellen ankündigten.
Leider hatte ich keinen Seismometer in meiner
Tasche, sonst wären mir die stark ausschlagenden
Amplituden aufgefallen.
Vereinzelt stiegen Männergruppen in den Zugwaggon,
die alle die ähnlichen Kleidungsfarben und Schale trugen.
In der leisen Vorahnung,
dass eventuell mein Steemit-Blog
eine Kernschmelze erfahren könnte
und in pyroklastischen Strömen untergeht,
verrate ich jetzt nicht
die Namen der Fußballvereine.
Um hier auf einem neutralen, exterritorialen Gebiet zu bleiben,
rede ich im Folgenden von den Vereinen Nord und Süd.
Also, während ich noch über die letzten Rosinenbeigaben
des Müslis nachdachte,
füllte sich der Zug zunehmend mit den Fans des
Fußballclubs Süd.
Der Waggon wurde immer voller und jeder trug die gleichen
Trikotfarben. Sie wurden stolz und überzeugend den anderen
Fahrgästen gezeigt.
Die mitgeführten Requisiten, wie
Trillerpfeifen,
Tröten,
Flaschenöffner,
Trommeln, …
wurden auf ihre Funktionalität geprüft und
immer öfter zum Einsatz gebracht.
Die mitgebrachten
Flaschen,
Fässer,
Kanister,
Tonnen und
Bottiche,
enthielten wahrscheinlich nach meiner laienhaften
Diagnose keinen Kamillentee.
Sonst wären die Gesänge nach jedem Entleeren
dieser Behältnisse nicht lauter geworden.
Ansatzweise kann ich jetzt Vulkanologen verstehen,
welche die ersten Eruptionswellen mit ihren
Seismometern aufgenommen haben.
Sie sehen dem Ausbruch eines Supervulkans mit
stoischer Gelassenheit entgegen,
wohlwissend, dass hohe Schäden entstehen werden.
Ähnlich erging es mir auf meinem Sitzplatz.
Neben mir,
um mich herum,
über mir,
füllten sich alle Plätze.
Bierflaschen,
Weizenbierfässer,
Wodkakrüge,
wurden geleert.
Die intonierten Gesangsstücke gewannen an Lautstärke.
Die entleerten Flaschen rollten entsprechend der
Kurvenlage des Zugwaggons in einer
Zickzack-Route durch den Gang.
Die freundlichen Mitreisenden erreichten allmählich
das Stadium des Deliriums.
Diese dramatische Verwirrung äußerte sich
in einer Störung der räumlichen Orientierung,
in unartikulierte Worte,
zeitweise Einschränkung der Aufmerksamkeit,
in unkontrollierten Gesichtszuckungen, …
Jeder Psychotherapeut hätte zu diesem Zeitpunkt
genügend Patienten zu betreuen.
Ein chinesisches Sprichwort sagt:
„Zuerst verwirren sich die Worte,
dann verwirren sich die Begriffe,
und schließlich
verwirren sich die Sachen.“
Frenetisch wurden alle möglichen Gassenhauer
angestimmt.
Diese wurden regelmäßig durch ein rhythmisches
Rezitativ unterbrochen.
Vielfältige kompositorische Neuinterpretationen der
vorangegangenen Arien wurden eingestimmt.
Die Primadonna der jeweiligen Gruppe motivierte
die Fans zu neuen erhabenen Gesangsvariationen.
Diese Koloraturen hätten einem Opernpublikum vielleicht
ansatzweise zugesagt.
Aber Opern sind nicht so mein Ding.
Ich bin mehr für experimentelles Theater.
Der Ausdruckstanz, der jedoch in diesem Waggon
aufgeführt wurde, konnte ich nicht so recht nachvollziehen.
Ich kam mir inmitten dieser Subduktionszone vor,
wie der letzte Überlebende einer Zombie-Apokalypse.
Ich dachte mir, wenn die Vulkanologen so ausgeglichen
vor einer Supereruption sind,
so kann ich das auch sein.
Die Fahrt näherte sich allmählich dem Spielort,
an der die beiden Vereine Nord und Süd ihre
Entscheidungsschlacht austragen sollten.
Eine Station vor dem Kampfort hielt die S-Bahn
länger als gewohnt.
Die Deliriumspatienten hatten wohl einen lichten
Moment.
Sie wunderten sich über den zeitlichen Verzug.
Eine sonore, knackende Stimme meldete sich aus
dem Lautsprecher:
„Alle Fußballfans des Vereins Süd steigen an dieser
Station aus. Sie werden zum Station geleitet.“
Erst jetzt nahm ich das große Polizeiaufgebot an dem
Bahnsteig wahr.
Alle Ausgänge waren von den Sicherheitsbeamten
besetzt. In Dreiergruppen liefen Polizisten mit
Kameras umher, um das Geschehen aufzunehmen.
Allmählich leerte sich der Zug.
Die meisten Fußballfans folgten der Ansage.
Weitere zehn Minuten vergingen.
Danach kam eine zweite, aber diesmal deutlichere
Durchsage:
„Alle Stadionbesucher des Vereins Süd haben den
Zug hier zu verlassen.
Die Bahn fährt nicht eher los, bis alle Süd-Fans
die Waggons verlassen haben.“
Mehre Sicherheitsleute betraten den Zug und
sammelten die letzten Fußballfans,
die als Süd-Fans zu erkennen waren, ein.
Sie wurden nach draußen geleitet.
Nach weiteren 20 Minuten konnte die S-Bahn
endlich weiterfahren.
Eine angenehme Stille erfüllte das Innere des
Zuges.
Lediglich der Geruch nach Alkohol erfüllte noch
den Innenraum.
Der letzte Teil der Fahrt verlief friedlich.
Mir kam das Zitat von Ernst Ferstl in den Sinn:
„Die Stille stellt keine Fragen,
aber sie kann uns auf alles eine Antwort geben.“
Am Zielbahnhof angekommen,
erwartete mich jedoch der nächste Magmastrom.
Der Verein West und der Club Ost trafen an diesem
Bahnhof aufeinander.
Der gesamte Bahnsteig und der Bahnhofsvorplatz
war mit Sicherheitsmitarbeitern besetzt.
Die Polizisten trennten die Fußballfans und leitete
sie zu den Straßenbahnen,
die zu dem Stadion fuhren.
Panem et circenses,
Brot und Spiele,
fanden also auch hier statt.
Der römische Dichter Decimus Junius Juvenal
hätte in dieser Stadt auch seine helle Freude gehabt.
In den nächsten Tagen werde ich mich wieder
dem gepflegten Volleyballspiel widmen.
Joachim Ringelnatz hat es treffend ausgedrückt:
„Humor ist der Knopf,
der verhindert,
dass uns der Kragen platzt.“
Was auch immer passiert,
habt in einem Epizentrum
immer eure Müslitüte dabei.
Viele Grüße.
LOL, sehr schöne Szenenbeschreibung! In "sowas" bin ich zum Glück noch nicht reingeraten.
Ich bin durch und durch Handballer (nach 20 Jahren "Karriere" aber nicht mehr aktiv), da geht es auch eher gesittet zu, obwohl die Härte auf dem Spielfeld natürlich auf anderes hinweisen könnte.
Liebe Grüße,
Chriddi
Danke für deinen netten Kommentar.
Die Fans sind natürlich unterschiedliche. Mit vielen
netten Fußballern habe ich mich unterhalten und die
sind natürlich auch ganz zugänglich.
Es ist immer interessant, sich mit Spielern aus anderen
Ballsportarten auszutauschen.
Viele Grüße.
Hallo chruuselbeeri
Sehr witzig und intressant geschrieben😊wurde es dir ab und zu nicht etwas mulmig?
Schade läuft es beim Fussball so. Wir waren jetzt gerade 1 Woche an der Eishockey WM in Bratislava. Tolle und sehr friedliche Stimmung unter den Fans.....trotz Alkohol. So sollte es sein.
Ich wünsche dir eine schöne Woche mit ruhigeren Zugfahrten mit deinem Müsli😉
Liebe Grüsse
Ich bin dann doch gut nach Hause gekommen.
Es gibt natürlich auch viele nette Fußballfans, mit denen
man sich gut unterhalten kann.
Danke für deine nette Rückmeldung.
Ich wünsche dir auch eine gute Woche.
Viele Grüße.
Wenn Fußballfans sich auf dem Weg zum Ort der sportlichen Auseinandersetzung befinden, zeichnen sie sich meiner Meinung nach durch sehr viel Kreativität, gepaart mit Musikalität aus.
Nach dem Match erkennst du weder Komponisten noch Orchester wieder.
Ich habe eine ganze Zeit in London gelebt. Das Samstag-24-Stunden-Ticket für die U-Bahn war der Eintritt in die Erlebniswelt der unvergleichlichen Art.
Ich habe mich bestens amüsiert.
Wolfram
Manchmal kommt man aus dem Wundern nicht mehr heraus.
Aber was wäre der Alltag ohne diese wundersamen Dinge und
Begebenheiten. :)
Danke für deinen netten Kommentar.
Viele Grüße.
Hallo @chruuselbeeri, toll beschriebene Bahnfahrt, habe mich sehr amüsiert :) Wünsch Dir eine schöne Woche. Alexa
Danke für deine netten Worte.
Ich wünsche dir auch eine schöne Woche.
Viele Grüße.
Sehr schön geschrieben :)
Posted using Partiko Android
Danke für deinen netten Kommentar.
Eine schöne Woche wünsche ich dir.
Viele Grüße.
Ein selten schöner Post! Ich habe ihn mit Freude (trotz des Inhalts) gelesen und deine sprachliche Virtuosität genossen. Hut ab! Diese Situation in Zug und am Bahnhof habe ich vor Jahren in Kiel "genossen", als es um ein Lokalderby ging. Ich war erschreckt über die Polizeipräsenz überall, bewaffnet nicht nur mit Videokameras... Die Fans bekamen eigene Abteils...
Und deinen Exkurs zum Volleyball kann ich auch bestätigen. In meiner aktiven Zeit habe ich nur Positives erlebt. Ich habe Volleyball extra gewählt, weil ich keine "Zweikämpfe" wie bei Fuß- , Basket- oder Handball wollte. ;-) Lieben Gruß Kadna
Danke für deine nette Rückmeldung.
Jeder Sport hat durchaus seine Vorzüge.
Wenn Sportarten nicht verbissen oder humorlos ausgeübt werden,
können diese auch Spaß machen.
Ich wünsche dir noch eine schöne Woche.
Viele Grüße.
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