Gefühl und Ratio im Kuckucksnest
Wenn einer unserer Patienten (ich arbeite in einer allgemeinpsychiatrischen Klinik) während oder direkt nach der Behandlung Selbstmord begeht, was selten, aber doch manchmal vorkommt, setzen sich die Kollegen zusammen. Es geht dann nicht nur darum, die eigenen emotionalen Reaktionen mitzuteilen und sich gegenseitig zu unterstützen, sondern auch um eine Reflexion: haben wir etwas übersehen, hätten wir den Suizid verhindern können, gibt es etwas für die Zukunft zu lernen?
Bei einer solchen Besprechung fragte eine Kollegin, ob wir nicht Patienten auch ohne rechtliche Grundlage zurückhalten müssten, wenn wir Angst um sie hätten. Man könne die Menschen doch nicht einfach sterben lassen, wenn für eine gesetzliche Unterbringung keine Gründe bestünden.
Dieser Wunsch war sicherlich schierer Hilflosigkeit und Traurigkeit geschuldet; dennoch erhob ich Einspruch, denn diese Frage ist in der Geschichte der Psychiatrie ja schon oft und mit viel Leid für die Betroffenen mit “ja” beantwortet worden, und sie zeigt meines Erachtens auch, wie destruktiv unklares und von Gefühlen geleitetes Denken sein kann.
Die Gesetze, mit denen jede Form der psychiatrischen Behandlung gegen den Willen der Betroffenen geregelt wird (Psych KG und Teile des Betreuungsrechts) sollen Patienten vor Zwangsmaßnahmen schützen, die auf Grund solcher gefühlter Gefahreneinschätzungen ergriffen werden könnten und in der Vergangenheit auch ergriffen worden sind. Das macht sie zu einem wichtigen Instrument zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte und der Freiheitsrechte von Psychiatriepatienten. Sie dürfen natürlich in Frage gestellt werden – sie sind von Menschen gemacht und entsprechend unvollkommen. Dies sollte aber meines Erachtens nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Suizid eines von uns betreuten Menschen und der damit verbundenen Betroffenheit stattfinden. Diese Debatte gehört in einen anderen Rahmen (nicht zuletzt in einen juristischen).
Mein Einwand und Appell an die Vernunft fand wenig Zustimmung. Es sei ja nicht alles rational, Gefühle müssten doch wohl erlaubt sein. Insgesamt schien es einen Konsens zu geben, dass Emotionen eine weit größere Bedeutung für die Bewertung unserer Arbeit zukomme als rationalen Argumenten oder empirisch erhobenen Daten. Lediglich einer der Oberärzte unterstützte die "gute Sache der Rationalität".
Es geht mir hier nicht um Kollegenschelte, sondern um die Frage, welche Konsequenzen sich insgesamt daraus ergeben, wenn Mitarbeiter in einer Psychiatrie oder anderen sozialen Arbeitsfeldern ihren Gefühlen den Stellenwert von Erkenntnissen zuerkennen, ohne sich dessen offenbar bewusst zu sein und ohne diese Tatsache einer kritischen Betrachtung zugänglich zu machen. Es geht mir darum, dass in der Psychiatrie Gefühle ähnlich wie religiöse Ansichten durch eine Art Tabu geschützt sein können und dann nicht durch rationale Argumente angetastet werden dürfen. Und es geht mir darum, welche Konsequenzen sich daraus ergeben können.
Ich bin mir dessen bewusst, dass nicht in jedem psychiatrischen Krankenhaus, nicht in allen sozialen Einrichtungen eine so gefühlsbetonte Haltung die Arbeit bestimmt; dies ist ein anekdotischer Bericht und soll als solcher verstanden werden. Ob diese Episode aber einen seltenen Ausreißer beschreibt, wage ich nach mehr als 25 Jahren Berufserfahrung im sozialen Bereich doch zu bezweifeln.
Bild: Wikimedia commons
Info zu PsychKG und Betreuungsrecht: https://de.wikipedia.org/wiki/Psychisch-Kranken-Gesetz
http://www.bmjv.de/DE/Themen/VorsorgeUndPatientenrechte/Betreuungsrecht/Betreuungsrecht_node.html
Ein sehr interessantes Thema. Sehr eng verwandt auch mit der Frage "hat ein Mensch das Recht sich selbst zu töten?". Die Antworten darauf berühren meist genau das selbe Spannungsfeld, welches du in deinem Artikel beschreibst. Ich denke angesichts solch existentieller Fragen fällt es vielen Menschen nicht leicht, rational zu bleiben.
Ja, wir sind den Umgang mit diesen Fragen auch nicht gewohnt. In Krankenhäusern kommen sie allerdings häufiger vorbei. Ich finde es vor allem sehr spannend, mich mit den philosophischen Fragen, die sich uns dort stellen, auseinander zu setzen, und wundere mich immer wieder, dass so viele Kollegen die gar nicht wahrzunehmen scheinen.
Vielleicht weil philosophische Betrachtungen ihnen auch in anderen Lebensbereichen eher fernliegen? Das ist jedenfalls so meine Erfahrung.
Meine auch. ;-)
Meine Auch!