Vierzehnte Erfindung | Fourteenth inventionsteemCreated with Sketch.

in Deutsch Unplugged2 years ago

Vierzehnte Erfindung

Vivienne findet, ich solle mich lieber – notfalls bei einer Handpflege – von Carola Rebuh beraten lassen. Denn das sei der passende Kontext für Blinde wie mich. Blinde wie mich? Ich bin empört! Vivienne lässt sich davon nicht beeindrucken: Es liege doch offenkundig, dass Witscha nicht mich, sondern sich selber eine neue Geschichte verpasse, indem sie mich „anders eingeschätzt“ habe und dies nun – durchaus rückwirkend – in ihr Leben zu integrieren beginne. Das müsse ich doch sehen, wenn ich nicht völlig augentaub oder gehirntot sei.

Daraufhin berichte ich von den in diesem ganzen Zusammenhang wieder gelöschten digitalen Botschaften, gesendet und entfernt durch Witscha selbst, Sprachnachrichten meist. Siehst du!, und nun sehe ich es endlich auch. Mein letzter, nun schon zaghafter Versuch, Vivienne zu ködern mittels anderer Details aus dem übrig gebliebenen Chat-Verlauf samt abschließender Witscha-Weisheiten wie „‚Wörter’ transportieren nun mal Inhalte“ trifft weder auf Gelächter noch auf Zustimmung, sondern auf ein uraltes Zitat aus der so genannten Bergpredigt: Werfet eure Perlen nicht vor die Säue.

Klingt erstmal hart, aber verdorich, wo sie Recht hat, hat sie Recht! Ich selbst war ja derjenige, der mit Klugschiss à la „Sobald über Wörter diskutiert wird, geht die Kommunikation verloren“ für den gehörigen Dreck gesorgt hatte. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob dieser Satz inhaltlich gut ist oder nicht, er war déplacé. Grunzend in die Wade gebissen worden zu sein, geschah mir recht. Nein, wäre mir recht geschehen; es war ja nicht mal ein Biss, sondern ein besseres „Schnick-schnack!“ gegen meine überhebliche Rede. Meine ganze Beschwerdeführung gegen Witscha, die ich mir so schön vorgestellt hatte – mit Vivienne in einem anderen Schöneberger Café, vielleicht im Bilderbuch in der Akazienstraße –, verlor ihren Gegenstand, gab sogar Anlass, an meiner Geistesschwäche nicht mehr länger zu zweifeln.

Wir verabreden uns aber trotzdem im Café Bilderbuch, male ich mir aus, und wir sprechen stattdessen über ein anderes Thema: über BWV 537. Das ist eine Fuge von Johann Sebastian Bach mit einer Fantasie als Präludium. Möglicherweise wurde das Werk etwa im Jahr 1716 in Weimar komponiert, vielleicht aber auch erst in Leipzig geschrieben, also nach 1723. (Welche Popsongs werden in zweihundertfünfzig oder dreihundert Jahren noch interessant sein, und für wen?)

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photo: ty-ty

Fourteenth invention

Vivienne thinks I'd better get advice - if necessary on hand care - from Carola Rebuh. Because that is the appropriate context for blind people like me. Blind people like me? I am outraged! Vivienne is not impressed by this: it is obvious that Witscha is not giving me, but herself, a new story, in that she has "assessed me differently" and now starts to integrate this - quite retroactively - into her life. I would have to see this if I were not completely eye-deaf or brain-dead.

I then report on the digital messages that were deleted in this context, sent and removed by Witscha herself, mostly voice messages. See!, and now I finally see it too. My last, now already timid attempt to lure Vivienne by means of other details from the remaining chat history including concluding Witscha-wisdom like "'words' transport content" meets neither laughter nor approval, but an ancient quotation from the so-called Sermon on the Mount: Do not cast your pearls before swine.

Sounds harsh at first, but dammit, when she's right, she's right! I myself was the one who created the mud with smart-ass remarks like "As soon as words are discussed, communication is lost". It doesn't matter at all whether the content of this sentence is good or not, it was déplacé. Being grunted at and bitten in the calf served me right. No, it would have served me right; it wasn't even a bite, but a better "Bells and whistles!" against my arrogant speech. My whole complaint against Witscha, which I had imagined so beautifully - with Vivienne in another Schöneberg café, perhaps in the Bilderbuch (Picture Book) in Akazienstraße - lost its object, even gave me cause to doubt my weakness of mind no longer.

But we arranged to meet at the café Bilderbuch anyway, I imagined, and we talked about a different subject instead: BWV 537, which is a fugue by Johann Sebastian Bach with a fantasy as a prelude. It's possible that the work was composed in Weimar in about 1716, or perhaps it was written in Leipzig, after 1723. (What pop songs will still be interesting in two hundred and fifty or three hundred years, and for whom?)

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 2 years ago 

Vivienne ist faszinierend. Für Dich ;-)) Im Gegensatz zu einigen anderen Randfiguren scheint sie mir keine reale Entsprechung zu haben... Oder... Deine weibliche Seite?

 2 years ago 

Klar. 1,95 m groß, Tattoo-Stecherin. Genau meine altera ega.

 2 years ago 

Njoar... Vielleicht drücken diese Merkmale den Grad der Ausprägung aus? Oder Du empfindest eine gewisse Furcht vor dem weiblichen Anteil...? ;-)) Menno. Küchenpsychologie praktizieren wir doch nicht ;-))

 2 years ago 

Hihö , aha , naja , die Vivienne betreibt wenigstens noch den Anschein irgendeiner sinnvollen Beschäftigung pro Tag fähig zum Sein zu , höhö ???

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