Und | And

in Deutsch Unplugged5 months ago (edited)

Und?

Vor ein paar Jahren hatte ich das große Glück, von einem kundigen Menschen auf eine sehr angenehme und lehrreiche Weise mit Grenzen des Denkens bekannt gemacht zu werden. Das war kein Privat-Unterricht, sondern eine Lehrveranstaltung an einer Universität, der Kurs nannte sich bescheidener Weise „Einführung in die Erkenntnistheorie“, und wir Teilnehmer hatten einige Bücher und Aufsätze verschiedener Autoren zu lesen und zu diskutieren.

Für mich war es eine Art von Therapie: ich fühlte mich zunächst verwirrt von den ungewohnten Fragen – und dann mehr und mehr befreit aus meinen festgefahrenen Denk-Gleisen. Das „Denken ohne Geländer“, wie Hannah Arendt es ausdrückte, habe ich zwar nicht ganz erlernt, aber doch ein bisschen davon erahnen dürfen.

Vor meiner Beschäftigung mit Erkenntnis-Theorien lebte ich im Naiven Realismus, und damit ist gemeint: in der kindlich-unschuldigen Annahme, dass das, was ich für die Wirklichkeit halte, auch die Wirklichkeit sei. Im Naiven Realismus war ich nicht darauf gekommen, dass meine Wahrnehmung (meine Seh-, Hör- und Tast-„Systeme“) sehr gute, sehr starke Filter sind, die mir unglaubliche Mengen an Daten-Spam vom Hirn fernhalten. Und ich war nicht darauf gekommen, dass die Ordnungen und Gliederungen, wie ich sie kannte, ganz wesentlich sozialer „Natur“ sind und mir durch Sprach-„Spiele“ von klein auf vermittelt, ja – indoktriniert wurden.

Ein Beispiel: gibt es Wald? Mein Naiver Realismus, der gute Teile meines Wachbewusstseins weiterhin beherrscht (in meinen Träumen hat er viel weniger zu bestimmen), antwortet: Was für eine Frage – natürlich (!) gibt es Wald, ich kann ihn ja sehen, riechen, mich darin bewegen. Ich kann seine typischen Geräusche hören, ich kann seine Bestandteile wie Bäume, Sträucher, Moos und so weiter anfassen.

Schön für dich, aber denk mal ein bisschen nach, sagen einige der Erkenntnistheoretiker. Du bist zahlreichen Reizen ausgesetzt und bekommst trotz aller sensorischen Filter ein großes Bündel Gefühle und Eindrücke, und du versuchst, dort Ordnung hinein zu bringen, weil du das musst, sonst ertrinkst du in der schieren Flut der Informationen und Empfindungen. Dazu hast du das mächtige Ordnungswerkzeug des dir vorgegebenen, nicht von dir selbst erfundenen Wortschatzes, in dem du dich geistig zu bewegen gelernt hast. Im Laufe von hunderttausenden von Jahren hat deine Spezies etwas entwickelt und systematisch von Generation zu Generation weiter gegeben, das wir heute als menschliche Sprache kennen und das ein so starkes Koordinatensystem ist, dass wir nicht mehr heraus treten können, wenn wir uns verständigen und unsere Handlungen koordinieren wollen. Was du „Wald“ nennst, ist ein soziales Konstrukt, ein von unzähligen Eigenschaften der beteiligten Komponenten absehendes Abstraktum, und dieses Wort „Wald“ funktioniert nur in bestimmten Kontexten und Sprachspielen, es ist nicht eine Bezeichnung für etwas Gegebenes, welches unabhängig von seiner sozialen Konstruktion vorhanden wäre.

Ups, dachte ich, aber das war noch nicht alles, es gab für mich ein Doppel-Ups! Denn, so fuhren diese und andere Erkenntnistheoretiker fort, du weißt ja, wie das ist im Dunkeln, da siehst du weniger bis nichts. Aber im Über-Hellen, da geht es dir genauso. Deine Augen extrahieren bestimmte Wellenlängenbereiche der elektromagnetischen Strahlung und benötigen eine gewisse Mindest- und Höchst-Dichte dieser Strahlung. Du kennst ja Tiere, die im Dunkeln viel besser sehen als du, und es dürfte dir daher eigentlich leicht fallen, daraus zu schließen, dass sie eine andere Welt sehen als du. Nimm zum Beispiel die so genannten „Farben“. In deinem optischen Wahrnehmungsbereich, der – musikalisch gesprochen – etwa eine Oktave umfasst, also die doppelte Frequenz von der unteren Grenze (Rot) zur obersten Grenze (Violett – daher ja die Bezeichnungen „Infrarot“ und „Ultraviolett“ für das, was du nicht sehen kannst), in diesem Bereich gibt es beliebig viele Farben, und das menschliche Auge kann darin erstaunlich fein differenzieren, etwa eine Million Farbtöne sind durch Vergleiche unterscheidbar. Warum gibt es aber nur fünf bis zwölf Farb-Wörter in den Sprachen? Weil die Schattierungen der Farbtöne uns andere Informationen bieten; unser Seh-Zentrum destilliert daraus Licht- und Schatten-Verhältnisse und aus diesen räumliche Konstellationen. Das hilft dir, dich in einer Umgebung zu orientieren.

Aber diese Umgebung ist nicht das, was du wahrnimmst, sie erscheint dir lediglich, alle Dinge zeigen sich dir nur in Ausschnitten oder Facetten – die „Welt“ ist Erscheinung des Seins, aber nicht das Sein selbst. Wenn du vor eine Wand rennst, dann ist da natürlich etwas, ein Körper, der deinen Körper nicht passieren lässt, doch was heißt das schon! Verschiedene andere Körper oder Strahlung gehen mühelos hindurch durch diese Wand, die selbst mehr „nichts“ ist als „etwas“, mehr leerer Raum als Masse. Das sagen zumindest die Teilchen-Physiker.

Und was lerne ich daraus?, wagte ich zurück zu fragen. Das bleibt im wesentlichen dir überlassen, lautete die ernüchternde Antwort; für deinen Einkauf von Milch oder Brot, für das Anbauen von Kartoffeln oder Getreide oder für die Suche nach Beeren genügt dein Naiver Realismus vollauf, darin hat er sich ja entwickelt und bewährt in hunderten, in tausenden von Generationen. Nur solltest du vielleicht erwägen, deinen Naiven Realismus nicht vorschnell zu übertragen auf die Welt im Ganzen, und schon gar nicht auf Gott. Denn während der Wald als soziales Konstrukt wenigstens noch Elemente unmittelbarer Wahrnehmung und Gegebenheiten zu enthalten scheint, so ist der Begriff von Gott das Abstrakteste schlechthin. Er kann so wenig Teil der methodisch nachweisbaren Dinge sein wie Liebe und Freiheit. Und auch dein Erleben kann nur darauf bezogen sein, aber nicht diese in irgendeiner Form enthalten, als wäre es ein Stück von dem Apfel, in den du gerade gebissen hast und den dein Magen nun eine Zeit lang enthält.

Es sind reine Erfindungen, Trugbilder, Traumbilder, Ablenkungsmanöver von Priestern und Machtgierigen?, fragte ich und begann, zornig zu werden auf den Betrug, dem ich mich jetzt ausgesetzt sah. Aber die Antwort war nur von manchen ein ebenso zorniges Ja, von anderen ein klares Nein. Und da ich bei einem Seitenthema der Erkenntnistheorie gelernt hatte, misstrauisch zu bleiben oder zu werden bei dem, was meine Meinung oder meine Gefühle bestärkte, ließ ich mir von diesen Verneinern näher erläutern: Es gibt jenseits der sozial geordneten Welt der Dinge und Tatsachen, jenseits dessen, was ist oder zu sein scheint, eine andere „Welt“, nämlich ein Gefüge an sozial konzipierten Werten und Normen, das weite Land dessen, was sein soll. Dort hin gehören die Freiheit, die Liebe, das Gute, die Gottheit. Diese gibt es, indem wir sie entstehen und werden lassen, unerreichbar, aber Weg-weisend.

Jeder Seefahrer weiß: wenn er die Sterne herab holen würde, dann könnte er sich nicht mehr an ihnen orientieren.

grafik.png

photo: NASA
-- just kidding: it's by ty-ty!
;-)

And?

A few years ago, I had the good fortune to be introduced to the limits of thought by a knowledgeable person in a very pleasant and instructive way. It was not a private lesson, but a course at a university, modestly called "Introduction to Epistemology", and we participants had several books and essays by various authors to read and discuss.

For me it was a kind of therapy: at first I felt confused by the unfamiliar questions - and then more and more liberated from my deadlocked thinking. I didn't quite learn how to "think without railings", as Hannah Arendt put it, but I did get a glimpse of it.

Prior to my preoccupation with theories of cognition, I lived in naïve realism, i.e. the childlike, innocent assumption that what I thought was reality was also reality. In naïve realism, I hadn't realised that my perception (my visual, auditory and tactile "systems") are very good, very strong filters that keep incredible amounts of data spam away from my brain. And I hadn't realised that the orders and structures as I knew them were essentially social in "nature" and that I had been taught, indeed indoctrinated, from an early age through language "games".

An example: is there a forest? My naive realism, which continues to dominate large parts of my waking consciousness (it has much less say in my dreams), answers: What a question - of course (!) there is a forest, I can see it, smell it, move around in it. I can hear its typical sounds, I can touch its components such as trees, bushes, moss and so on.

Good for you, but think about it a bit, say some of the epistemologists. You are exposed to numerous stimuli and, despite all your sensory filters, you receive a large bundle of feelings and impressions, and you try to bring order to them because you have to, otherwise you will drown in the sheer flood of information and sensations. To do this, you have the powerful organising tool of the vocabulary given to you, not invented by you, in which you have learned to move mentally. Over the course of hundreds of thousands of years, your species has developed and systematically passed on from generation to generation what we know today as human language and which is such a powerful system of coordinates that we can no longer step outside it when we want to communicate and coordinate our actions. What you call "forest" is a social construct, an abstract concept that is independent of the innumerable characteristics of the components involved, and this word "forest" only functions in certain contexts and language games, it is not a designation for something given that would exist independently of its social construction.

Oops, I thought, but that wasn't all, there was a double oops for me! Because, these and other epistemologists continued, you know how it is in the dark, you see less or nothing. But in the over-bright, you feel the same way. Your eyes extract certain wavelength ranges of electromagnetic radiation and require a certain minimum and maximum density of this radiation. You know animals that see much better in the dark than you do, so it should be easy for you to conclude that they see a different world to you. Take the so-called "colours", for example. In your optical range of perception, which - musically speaking - covers about an octave, i.e. twice the frequency from the lower limit (red) to the upper limit (violet - hence the terms "infrared" and "ultraviolet" for what you can't see), there are any number of colours in this range, and the human eye can differentiate amazingly finely within it, about a million shades can be distinguished by comparison. But why are there only five to twelve colour words in languages? Because the shades of the colour tones provide us with other information; our visual centre distils light and shadow ratios from them and spatial constellations from these. This helps you to orientate yourself in an environment.

But this environment is not what you perceive, it merely appears to you, all things only show themselves to you in sections or facets - the "world" is the appearance of being, but not being itself. If you run into a wall, then of course there is something there, a body that does not allow your body to pass, but what does that mean! Various other bodies or radiation pass effortlessly through this wall, which itself is more "nothing" than "something", more empty space than mass. At least that's what particle physicists say.

And what do I learn from this, I dared to ask back. That is essentially up to you, was the sobering answer; your naïve realism is perfectly adequate for buying milk or bread, for growing potatoes or grain or for searching for berries, as it has developed and proven itself over hundreds, thousands of generations. But perhaps you should consider not rashly transferring your naïve realism to the world as a whole, and certainly not to God. For while the forest as a social construct at least still seems to contain elements of immediate perception and realities, the concept of God is the most abstract thing of all. It can no more be part of methodically verifiable things than love and freedom. And your experience can only be related to it, but cannot contain it in any form, as if it were a piece of the apple you have just bitten into and which your stomach now contains for a while.

Are they pure inventions, mirages, dream images, diversionary manoeuvres by priests and power-hungry people?, I asked and began to get angry at the betrayal to which I now saw myself exposed. But the answer was only an equally angry yes from some, a clear no from others. And since I had learnt in a side topic of epistemology to remain or become suspicious of what reinforced my opinion or my feelings, I had these deniers explain to me in more detail: beyond the socially ordered world of things and facts, beyond what is or seems to be, there is another "world", namely a structure of socially conceived values and norms, the vast land of what is ought to be. This is where freedom, love, goodness and divinity belong. These exist by allowing them to emerge and become, unattainable but pointing the way.

Every sailor knows that if he were to bring down the stars, he would no longer be able to orientate himself by them.

Translated with DeepL.com (free version)



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Mein erster Gedanke war, Alter jetzt macht der schon wieder so ein Fass auf :)

Aber cool, da rebelliert in mir alles. Erkenntnistheorie also? Spannendes Thema.
Ehrlich gesagt weiß ich da jetzt gar nicht was ich da entgegnen sollte. Ich werde versuchen meine Gedanken zu ordnen und dir dann dazu meine Meinung zukommen lassen.

Nur eines. Für mich klingt das stark nach dem alten Streit darüber was zuerst da war, die Universalien oder die Nominalien. Was eine extrem spannende Frage ist. Bezogen auf den Wald würde das ja bedeuten, was ist zuerst da, der Begriff des Waldes oder ein Haufen Bäume? Kann es eigentlich etwas geben bevor man es auf den Begriff bringt? Wenn aber die Potenz der Schöpfung, wie es die Quantenmechanik beschreibt, erlaubt das das Wort, sprich der Begriff, die Sache schafft, ihr also vorausgeht, muss dann nicht der Begriff vorher schon "da" sein?

Hmmm... you have given me something to think about. The "world of being" and the "world of becoming." I didn't think of the latter as bound by languages before.

 5 months ago 

Perhaps through "concepts" rather than "languages"? You and I speak different languages. If we translate them, we have roughly the same concept of a forest. A deer knows this forest better than we do - but has no concept of it. We don't know how it perceives the forest...

I think concepts are linked to the world of being. It's a general notion about something which is essentially the same. Like,

Forests have trees.

One doesn't have to possess linguistic skills to know that.

Where things differ?

Subjective experiences - those make the world of becoming which is unique for all regardless of the languages spoken or not.

Language is just a tool that enriches the experience; it's congnition that unlike concepts is dynamic and ever evolving based on individual's experiences.


Just my two cents. I wrote this as I thought. My brain is not philosophical like ty-ty. 😀

 5 months ago 

Don't underestimate your brain ;-))

But the deer doesn't think forests have trees. Because it doesn't know any trees. It doesn't recognise big green things either. Because it has neither colours nor words. It doesn't actually think either. Perhaps, certainly even, it feels cool temperatures or shade or a hiding place. But these are all just our words for something that we define for ourselves.

Despite the latest technology, we will probably never know how the deer perceives something. Because this also relates to our concepts.

Like you, I am certain that the forest is there. Ty-ty sees it differently ;-))

Because it doesn't know any trees.

Maybe it recognizes them as something else - food?

By trees I meant everything - bushes, plants, leaves...

 5 months ago 

Yes, but neither has the concept of "food". It instinctively bites into things, chews them, swallows them and thus survives. It is not aware of any of this. It is no less real for that, but it no longer has anything to do with our perception. Because even "biting", "chewing" and "swallowing" are concepts bound to ideas.

Ok leave the deer, we can say the same about human babies...only that their cognitive skills develop with time whether they learn to communicate or not.

 5 months ago 

Interesting. Nowadays it is difficult to imagine a child who cannot communicate. If it is hearing or speech impaired, there are plenty of other means of communication. But let's try to imagine such a "wolf child". A baby who has never had contact with people in childhood. Thanks to its physique, it perceives in a human way, but has no conceptualisation of it. Or a severely autistic person who has their very own perception anyway... Do they have much in common with ours?

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