Welche Geschichte willst du am Ende erzählen?
Vorige Woche, ich blickte gerade aus dem Fenster, sah ich einen hoch gewachsenen, betagten Mann mit weißem Haar und etwas krummem Rücken an meinem kleinen, bunt bepflanzten Balkon vorbeispazieren. Er schob einen Kinderwagen vor sich her und schien im Frieden mit dem Leben. Das Bild berührte mich. Es erzählte die Lebensspanne von drei Generationen und es erfüllte mich mit Ehrfurcht.
In diesem Moment fragte ich mich, was wohl in diesem Mann, dem Großvater des Kindes, vor sich ging. Ein Baby, vertraute sich voll und ganz dem Gewicht von über Jahrzehnte gesammelter, väterlich geerdeter Energie an. Und ein alter Mann übernahm in diesem Moment die Verantwortung für ein zerbrechliches, kleines Wesen, das unbedarft und kindlich naiv der Entwicklung seines Lebens seinen Lauf lässt. Eine Seele, die sich mutig für diese Existenz entschieden hat, um Erfahrungen zu sammeln und der Menschheit mit einem Geschenk zu dienen.
Während der Großvater auf die letzten Jahre seines Lebens blickt, liegen Jahrzehnte an Möglichkeiten dem Kleinen zu Füßen. Ersterem ist es bewusst. Letzterem sehr wahrscheinlich nicht. Es ist uns heute fast nicht möglich zu erahnen, welche Erfahrungen ein Neugeborenes in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf diesem Planeten erwarten werden. Wir haben keine Vorstellung, wie diese Welt in zehn Jahren aussehen wird, geschweige denn in vierzig, fünfzig oder neunzig Jahren.
Der Großvater blickt indes auf ein langes Leben zurück. Auf sieben oder acht Jahrzehnte Menschsein auf Erden. Auch er hat unglaubliche Erfahrungen in dieser Lebenszeit gesammelt. Von den Kriegsjahren begonnen über die Jahre des Wiederaufbaus und des Wirtschaftaufschwungs bis hin ins digitale Zeitalter und zu den Anfängen des Erwachens einer neuen Menschheit. Seine Generation hat sich großen Herausforderungen gestellt. Und auch dem kleinen Wesen werden sie nicht erspart bleiben. Was diesem aber Halt geben wird, sind die Wurzeln und der Stamm seiner Familie. Der energetische Zusammenhalt und die Kraft, die aus diesen Verbindungen hervorgeht.
Immer noch fragte ich mich, was wohl in dem Großvater vor sich ging, wenn er auf sein Enkelkind blickt. Gewiss war es ein zärtlicher Blick. Vielleicht aber auch ein nachdenklicher. Vielleicht erfüllte ihn abermaliges Staunen über das Mysterium des Lebens. Vielleicht auch Demut vor der Kraft des Lebens. Vielleicht blickte er mit etwas Sorge auf das Kleine, ob es den anspruchsvollen Aufgaben der Zukunft dieser Menschheit gewachsen sein würde. Ob es mutig sein würde, das Natürliche am Menschsein zu verteidigen, ohne sich in die Fänge einer künstlich gesteuerten Matrix zu begeben, in der der Mensch mehr und mehr zu einem manipulierten Kunstprodukt werden soll.
Und wie dachte er wohl über sein eigenes Leben? War er damit im Frieden? Hatte er gelebt, was seine Seele zu leben gedachte? Empfindet er dieses stille Glück, wenn er auf sein Leben zurückblickt, weil er darin den Segen erkennt? Fühlt er Dankbarkeit? Oder Reue? Reue über die nicht gelebten Abenteuer, Träume und Sehnsüchte, die ihm seine leise Stimme über die Jahre geflüstert hatte. Reue darüber, dass er so manches Risiko nicht eingegangen ist, obwohl das Herz JA dazu gesagt hätte. Reue auch darüber, für so manche Bereiche des Lebens keine Verantwortung übernommen zu haben, obwohl es einen Ruf der Seele gab.
Wir wissen es nicht. Was wir im Anderen sehen, ist Teil unserer eigenen Wahrnehmung. Ich habe einen Mann gesehen, dessen großes Glück es war, einen Kinderwagen schieben zu dürfen. Im Wissen, dass etwas von seinem Leben in einem anderen Wesen fortleben darf. Ein bisschen natürlicher Stolz lag in der Luft. Freude darüber, dass junges Leben ein Ausdruck von Hoffnung für eine lebenswerte Zukunft sein darf. Und sollte er dennoch etwas in seinem Leben bereuen, so überwiegt vielleicht das Glück, das er über die bewusst gelebte und erlebte Großelternschaft empfindet.
Wie aber ergeht es dir, wenn du dir dieses Bild vor dein geistiges Auge holst und du dich gedanklich in dein hohes Alter katapultierst? Wofür möchtest du am Ende dankbar sein? Was möchtest du nicht bereut haben? Was möchtest du heute verwirklichen, erleben, tun, worauf du am Ende deiner Tage stolz sein willst. Was hat wirkliche Bedeutung für dich? Wobei geht dein Herz auf? Was bringt deine Augen zum Strahlen? Was macht dich glücklich?
In solchen Momenten fällt mir immer eines meiner Lieblingszitate von Mark Twain ein:
In 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die du nicht getan hast, als über die Dinge, die du getan hast. Also lichte den Anker, verlass den sicheren Hafen. Lass den Passatwind in die Segel schießen. Erkunde. Träume. Entdecke.
Herzensgrüsse zu dir
Erika