Mein anglophiles Krokodil
Englisch ist nicht meine Muttersprache; erst in der Schule, in der zweiten oder dritten Klasse, begann ich "spielerisch" (und daher quälend langsam) Englisch zu lernen. Später, zwischen Schule und Studium, verbrachte ich insgesamt drei Jahre in Südafrika und England. In dieser Zeit wurde aus einer Sprache, die ich praktisch, aber nicht unbedingt schön fand, eine Art sprachliche zweite Heimat.
Seitdem bemerke ich zwei Phänomene, die ich mir nicht wirklich erklären kann:
- Wenn ich Englisch spreche, lese, denke, nehme ich mich selbst etwas anders wahr; meine "englische Persönlichkeit" unterscheidet sich von meiner deutschen. Nicht spektakulär, aber deutlich. Andere schildern dies auch, es ist also nicht einfach eine meiner Macken.
- Das Krokodil spricht englisch.
Err, what?
Wann immer ich plötzlichem, starkem Streß ausgesetzt bin, wenn ich mich erschrecke, eine gefährliche Situation erlebe, reagiere ich unwillkürlich verbal auf Englisch.
Ich radle zur Arbeit, mir fährt ein Auto aus einer Ausfahrt vors Rad, ich mache eine Vollbremsung und sofort bekommt der Fahrer ein paar Flüche um die Ohren. Laut, und auf englisch. Immer.
Mein Autopilot nimmt die Baustelle nicht wahr, ich laufe beinahe in die frisch gegrabene Grube, und schon entfährt mir ein "oh fuck bloody hell!".
Wo mir früher ein "huch" entfuhr, ist es jetzt ein "oops!".
Anscheinend hat sich der für automatische Verhaltensreaktionen zuständige Teil meines Gehirns, populärwissenschaftlich auch als Reptiliengehirn(*) bezeichnet, mein inneres Krokodil also, während meines Aufenthaltes in Südafrika in der englischen Sprache eingerichtet und entschieden, dort zu bleiben.
Jetzt wüsste ich gerne:
Warum reagiert ein Gehirn ausgerechnet in einer potentiell gefährlichen Situation mit einem Ausruf in einer Fremdsprache? Welche Mechanismen liegen dem zugrunde? Warum überhaupt Energie mit Sprache verschwenden, wenn Flucht oder Kampf notwendig werden könnte? Hat das etwas mit der "englischen Persönlichkeit" zu tun? Weiß Steven Pinker eine Antwort? Mit Sprache kennt der sich jedenfalls aus, wie dieses wunderbare Video zeigt:
(*) Der Hirnstamm, der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns, den wir mit allen Tieren teilen.
Der Hirnstamm steuert essentielle Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag, Schlaf, Aufmerksamkeit, Kreislauf, Husten und Erbrechen. Er löst aber auch automatische Verhaltensreaktionen aus.
Quellen:
https://www.dasgehirn.info/denken/emotion/der-schaltkreis-der-angst?gclid=Cj0KCQiAgNrQBRC0ARIsAE-m-1ySSkj3fqg2UxTXXs0UJ_-FubgkY--q1i7dLlalnTiMOK5Q1leqUO0aAqUmEALw_wcB
https://www.dasgehirn.info/grundlagen/anatomie/der-hirnstamm
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