Ins Reich der Leidenschaft
Mein korrupter Weg in das Reich der Leidenschaft
Hannes würde ich als das bezeichnen, was allgemein in der Rubrik „bester Freund“ abgespeichert wird. Seit der Kindergartenzeit waren wir wie Kopf und Arsch. Da passte einfach alles. Machten wir nicht mit Dartpfeilen oder Pfeil und Bogen Jagt auf alles was sich bewegte, lungerten wir entweder bei uns oder im Haus von Hannes Eltern rum.
Um ganz ehrlich zu sein, gefiel es mir bei Hannes doch einen Tick besser, als bei uns, da die Eltern meines Freundes beide berufstätig waren und als Ersatz die Oma von Hannes parat stand und uns mit all möglichen Leckereien versorgte. Bei meiner Mutter, die quasi immer, auch wenn man sie überhaupt nicht brauchte, präsent war, hätten sich solche Verpackungen nie im Leben geöffnet. Bei ihr hieß es dann immer: „Macht nur die Zähne kaputt.“
Was mich anfänglich bei der älteren Dame (denn sie sah überhaupt nicht aus, wie ich meine eigenen und anderer Leute Omas kannte) verwunderte, war das komische Deutsch, das über ihre Lippen kam. Hannes sorgte aber umgehend für Aufklärung. Die Sprache war sozusagen der tägliche Protest einer Mutter, die dem eigenen Sohn verübelte, alte Traditionen und Werte nicht öffentlich zu leben. Die Familie Klein sind nämlich Juden. Das weiß natürlich auch der Vater von Hannes. Nur interessierte es ihn nicht sonderlich. Irgendwann, viele Jahre später, fasste er sein Verhältnis zur Religion mir gegenüber so zusammen: „Hat uns bisher nichts als Ärger eingebracht. Warum also alte Fehler immer wieder neu begehen?“ Frau Klein Senior blieb bis zu ihrem Lebensende enttäuscht von der Haltung ihres Sohnes. Wollte aber unbedingt ein Zeichen setzten und nutzte dazu die Zeit, wenn sie mit dem Enkel alleine war, konsequent nur jiddisch zu reden und die Geschichten aus der Tora täglich neu zu interpretieren. Hannes fand das alles so spannend wie der Durchfall der Katze vom Nachbarn. Mich dagegen zog diese Frau mehr und mehr in ihren Bann, da sie neben dem unerschöpflichen Arsenal an Süßigkeiten auch irre gute Musik auf Lager hatte. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, mit 14 bereits die besten Klezmer-Interpreten dieser Zeit gekannt zu haben. Diese Musik hatte die Kraft mich davonzutragen. An der Seite von Hannes Oma reifte mein Wunsch heran, eine Klarinette so spielen zu können, dass dir vor Freude die Tränen in die Augen steigen.
Aber egal wie spannend auch die Geschichten aus der Tora waren, das Kapitel Religion blieb für mich verschlossen. Nur meiner konsequent gelebten Inkonsequenz und meinem leichten Hang dazu, korrupten Angeboten nicht immer aus dem Weg zu gehen, hat es ermöglicht, dass ich wenig später überhaupt in Kontakt mit der Kirche kam.
Ich hatte nie ein Problem damit, dem Religionsunterricht in der Schule beizuwohnen. Das Alte Testament finde ich noch immer recht spannend (aber bei Weitem nicht so spannend, wie es Frau Klein interpretiert hatte). Doch kommt die Kirche als Institution ins Spiel, ist es bei mir vorbei mit lustig. Vielleicht ist meine Abneigung auch das Resultat des ein Jahr dauernden Versuchs mir den Sinn und Zweck der Kirche und des christlichen Glaubens etwas näher zubringen, um dann mit der Konfirmation dem Ganzen noch ein Hütchen aufzusetzen? Ich hatte mich von Beginn an geweigert diesen Unterricht zu besuchen, da ich erstens die Kirche als Gebäude schon nicht mochte, zweitens den Pfarrer noch viel weniger und außerdem versaute mir der Termin jedes Mal den ganzen Nachmittag. Für mich waren dies drei schwerwiegende Gründe dem Tamtam fernzubleiben. Leider zeigten meine Eltern überhaupt kein Verständnis für die Argumente des Sohnes. Wer den Nachnamen Ritter trägt, wird getauft, geht zur Konfirmation und lässt sich kirchlich trauen. Bums, fertig, aus. Da gibt es auch keine Diskussionen. Schon gar nicht mit jemandem, für den man noch das Sorgerecht hat und der selbst nichts in die Haushaltskasse beisteuert, sondern nur Kosten verursacht.
Aber Vasco Ritter wurde nicht konfirmiert, weil Beate und Till Ritter Druck ausübten. Nein, das hätte bei mir sowieso nichts genützt. Mir ist lediglich die Frage gestellt worden, wie ich gedenke, meine Klarinette zu finanzieren, die ich mir so sehr wünschte. Man hat also meine Hilflosigkeit brutal ausgenutzt und mich mit einem Köder gekauft. Ja, und ich habe mich bereitwillig kaufen lassen. Den Unterricht habe ich zwar so gut wie nie besucht, was den Pfarrer aber wenig störte, denn wenn ich da war, quälte ich ihn konsequent mit ungemütlichen Fragen über die Kirche als Machtinstrument oder warum den Christen das Alte Testament nicht ausreicht und ein Mann erfunden werden musste, der sich nicht selbst die Füße waschen aber über Wasser laufen kann. Die Kirchengemeinde hat mich trotzdem nicht verstoßen. Ich zeigte mich aber wenig dankbar, kassierte nur bei der Konfirmation ab, kaufte mir die Klarinette und erschien mit Erreichen meiner Volljährigkeit auf dem Amtsgericht und zerschnitt symbolisch mit einem Stempeldruck das Band, welches Vasco Ritter auf immer und ewig an der Kirchengemeinde halten sollte.
Schöne Geschichte, Häge auch eine Abneigung gegenüber der Kirche.Mein Uropa war im 2. Weltkrieg in Italien und als er zurück kam wollte er nichts mehr mit der Katholischen Kirche zu tun haben.Er hat leider auch nicht darüber geredet was seine Gründe sind.Schade das er gestorben ist als ich noch sehr jung war,sonst hätte ich bestimmt was in erfahrung gebracht.
Ausschlaggebend für mich zu jener Zeit war wohl, dass mir niemand überzeugend erklären konnte, für was diese Institution Kirche gut sein soll. In einem ungeheizten Gemäuer zu sitzen, mir Langeweile pur freiwillig aufzuerlegen und ständig wieder aufstehen zu müssen, wenn man sich gerade erst gesetzt hatte. An einem solchen Zeitvertreib fand ich einfach keinen Gefallen. Später in meinem Leben kamen natürlich noch einige Argumente dazu, meine Meinung nicht mehr rückgängig zu machen. Aber grundsätzlich hätte ich das Kapitel Kirche auch mit 14 abschließen können.
Die Erkenntnis über die Rolle der Kirche in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen wird deinem Opa wohl den Rest gegeben haben.
Grüße, Wolfram
Super Geschichte. Du hauchst durch liebevolle Details den Charakteren Leben ein. Die Geschichte mit der Konfirmation kann ich nur bestätigen. Mir hat man gesagt ich müsse unbedingt einen Führerschein machen wenn ich 18 bin. Und den könnte ich nur finanzieren, wenn ich konfirmiert werde. Und anderenfalls wäre ich dann mein Leben lang unselbstständig. In dem kleinen Dorf aus dem ich komme fährt nur 4 Mal am Tag ein Bus ab. Natürlich lernte ich alle meine Verschen und ging in den Unterricht. Das Druckmittel war zu stark. Ich mag die anderen Charaktere lieber -die nicht, wie die Eltern, starken Druck ausüben. Druck ein Glaubensbekenntnis abzulegen ist Stuss. Ich bin letztes Jahr endlich ausgetreten. Geklappt hat das mit Zustimmung meiner Eltern erst nachdem meine Schwester aufgrund der Steuerersparnis ausgetreten ist. Ich hätte natürlich auch schon früher austreten können. Aber hier in Berlin dauert so etwas bei Behörden ewig. Da sind die kleinen Dörfer schon schön :)
Insbesondere beruhigend für mich selbst, fand ich (mich selbst reflektierend), dass ich gewappnet für dieses Leben war. - Wenn das mit der Korruption bei mir schon so früh und so reibungslos funktioniert. Dazu auch noch mit musikalischer Untermalung. Rückblickend muss ich jedoch konsterniert feststellen, dass ich auf diesem amateurhaften Niveau der Bestechlichkeit stehen geblieben bin. Da haben mich doch eine ganze Horde wilder Ochsen ganz locker überholt.
Danke für deinen Kommentar. Gruß, Wolfram
Habe es gerne gelesen, ist sehr gut geschrieben. Danke!
Mein Dank zurück. Ich wünsche noch einen schönen Sonntag.
Gruß, Wolfram