Erst brennen sie und dann stürzen sie ein - Mauerfall
Die Deutschen haben es nicht leicht mit ihren Mauern.
Der 9. November ist eigentlich ein Tag, der immer auf einen Sonntag fallen müsste. Warum? Weil der deutsche Staatsbürger an diesem Tag nichts zum erhofften Wirtschaftswachstum beitragen kann. Zu unentschlossen torkelt er in den Tag hinein. Sowieso nicht unbedingt für seine Entscheidungsfreudigkeit in aller Welt berühmt, scheint am 9. November auch diese Fähigkeit fast vollständig zu erlahmen.
Zugegeben, es ist kein wirklich idealer Einstieg in den Tag, wenn zum Frühstück, anstatt Brötchen, Butter und Marmelade, die Deutsche Geschichte serviert wird. Und da sich der Deutsche zu einem ernstzunehmenden Allergiker gemausert hat, bereitet ihm das Verdauen dieser schweren Kost erhebliche Probleme. Die eine Fraktion, dieser überaus empfindlich reagierenden Menschen, verbrennt sich, auch 81 Jahre danach, nur ungern die Finger an brennendem Gemäuer und schieben den Teller möglichst weit weg von sich, während die andere Gruppe der Allergiker sich immer weiter der Überzeugung nähert, dass die Mauer vielleicht doch besser hätte stehenbleiben sollen.
Wer kann sich da noch auf die Volkswirtschaft kümmern? Schließe ich mich der Mahnwache vor der Synagoge an oder entkorke ich eine Flasche Rotkäppchen, singe alte Lieder und finde jedoch, tief in mir drin, all das Gedöns so richtig scheiße.
Aber am allerliebsten hätte der hadernde Deutsche ja viel lieber seine Ruhe. Die Juden, denen noch immer die Extrawurst gereicht wird und sowieso nur die Hand aufhalten oder der Ossi, der immer und ewig der Meinung sein wird, zu kurz gekommen zu sein. Das muss man doch alles nicht unbedingt haben.
Erheblich effektiver wäre es wahrscheinlich, wieder mit dem Mauern zu beginnen.
Der Mauerfall
So muss es gewesen sein
Karl-Marx-Stadt, 10. November 1989
7:30 Uhr. Erich Kanülle, Vorzeigemonteur im mehrfach ausgezeichneten Vorzeigekombinat ›Hau-den-Lukas‹, erhebt sich mühsam von seinem Nachtlager und schlurft noch reichlich verschlafen ins angrenzende Badezimmer.
Erich hat keine Ahnung, dass zur gleichen Zeit unzählige seiner Brüder und Schwestern von der Arbeiter- und Bauernfront im Feindesland die Deutsche Bundesbank zum Aderlass zwingen, bei SPAR und EDEKA Spreewald-Gurken gegen Bananen eintauschen und West-Berliner Tankstellenbesitzer vor die unlösbare Frage stellen, womit ein Trabbi überhaupt gefüttert wird.
Kaum hat Erich Kanülle die Tür zum heiligen Örtchen hinter sich verschlossen, steigt in ihm das Gefühl auf, dass hier etwas nicht stimmt. Genauer gesagt, etwas nicht in geordneten Bahnen läuft. Grund seiner Besorgnis ist das Badezimmerfenster, das im Gegensatz zu all den Jahren zuvor nicht geschlossen, sondern sperrangelweit geöffnet ist. Genosse Kanülle kratzt sich nicht bloß besorgt und leicht verwundert am Kopf, er wird überflüssigerweise auch noch von einer unheimlichen Vorahnung befallen. Zielstrebig stürzt er auf den Waschtisch zu und mehr reißend als ziehend gelingt es ihm im dritten Anlauf, die oberste Schublade zu öffnen. Mit dem ersten Blick in die Schublade fällt ihm ein volkseigener Stein von seinem Herzen. Rasierpinsel, Seife, Kamm – alles noch da. Zutiefst erleichtert will Kanülle nun ganz sicher gehen und öffnet letztlich die unterste Schublade, um seinen Körper in den Zustand vollkommener Gelassenheit zurückzuversetzen, wo er eigentlich um diese Uhrzeit hingehört. Kaum lässt der erste Spalt einen vorsichtigen Blick zu, sackt Erichs Blutdruck in eine Ebene ab, die von allgemeinen Medizinern nicht mehr messbar ist und im Volksmund als Knieschlottern oder Fracksausen bezeichnet wird. Ein Gefühl, das schlimmer einzustufen ist, als das eines strenggläubigen Katholiken, der aus der Zeitung erfahren muss, dass der Vatikan Mehrheitseigner bei Beate Uhse wird. Erich Kanülles Zustand wird jedoch noch viel besorgniserregender, nachdem ihn ein fünfminütiger Blackout erneut vor der halb geöffneten Schublade seines Waschtisches ins reale Leben zurück entlässt. Ein zweiter, diesmal gefasster Blick bringt ihm die letzte Gewissheit: Irgendein Volldepp muss unbemerkt seine privaten Grenzanlagen überwunden und den gut gehüteten Sozialismus geklaut haben.
Erich Kanülle fühlt sich so, wie nur ein gebrochener Mann sich fühlen kann, wenn er erfährt, dass die Bruchstelle irreparable ist . Seine Haut wirkt transparent wie sonst die Hühnersuppen aus den volkseigenen Küchen. Regelrechte Sturzbäche aus prall gefüllten Tränensäcken verwandeln sein Badezimmer in Minuten in eine Disney-Ausgabe der Mecklenburgischen Seenplatte. Tausend Gedanken zischen durch seinen Kopf.
Warum haben sie nicht einfachheitshalber lediglich seine gelben Ledersocken geklaut? Seinetwegen auch die gehäkelte Sommermütze, die ihm die Patentante aus Bochum geschickt hatte. Die war ihm zwar ans Herz gewachsen, jedoch bestand sie keinen Vergleich zu seinem Sozialismus. Was werden überhaupt die Genossen im Betrieb sagen? Gar nicht auszudenken was passiert, wenn alle in der Frühstückspause ihren real existierenden Sozialismus auspacken und er nichts als ein belegtes Leberwurstbrot vorweisen kann! Nicht zu denken an die Nachbarn! Die werden den Kontakt zu ihm direkt in die Tiefkühltruhe verlagern.
Ohne seinen Sozialismus ist er ein Nichts, ein Neutrum, eine Schmeißfliege und subversives Element. Mensch, Kanülle, was waren das für schöne Zeiten. Sollte das alles jetzt vorbei sein?
Erich Kanülle vergegenwärtigt sich jenen Abend der vergangenen Woche, an dem Theo Labritzke zu einer seiner berühmten Partys eingeladen hatte. Diesen Einladungen folgte Erich allzu gerne, weil Theo im Allgemeinen die neuesten Spiele und den besten Schnaps hervorzaubern konnte. Weiß die Stasi, woher er das Zeug dauernd anschleppte. An diesem Abend, die vierte Flasche Korn war gerade geleert und Matuschek befreite soeben seine Nachbarin von ihrem viel zu engen Büstenhalter, eröffnete Labritzke die traditionelle Spielrunde. Dies geschieht stur nach dem immer selben Ritual. Zuerst wird die Nationalhymne abgespielt und dann eine neue Flasche Korn entjungfert. Danach weiht Theo die Gäste in die Spielregeln ein. Diesmal gab er an, er hätte eine Portion Freiheit des Andersdenkenden in seiner Wohnung versteckt und wer diese zuerst fände, bekäme eine extra Portion real existierenden Sozialismus. Mit dem Superpreis war natürlich jeder hochzufrieden, leider wusste eigentlich keiner wirklich richtig, was er sich unter dem zu suchenden Etwas hätte vorstellen sollen. Auf alle Fälle strömte alles auseinander, um möglichst schnell mit der Beute neuerlich aufzutauchen, denn die Zeit, in der man suchte, fehlte einem im Nachhinein zum Trinken. Über eine Stunde hatten sie emsig gesucht, als der Gastgeber unversehens das Spiel abbrach.
Kanülle war gerade damit beschäftigt, die Toilettenschüssel zu zerlegen, während Matuschek den Schlüpfer seiner Nachbarin durchsuchte und möglicherweise gerade deswegen den Spielabbruch schlichtweg ignorierte. Die gründlich Durchsuchte schien mit Matuschecks Nichtbeachtung des Spielabbruches höchst zufrieden und daher ließ man beide unbehelligt gewähren. Labritzke, eine Flasche Korn in der linken Hand schwenkend und auf beiden Beinen verdächtig schwankend, gab an, sich letztendlich erklären und entschuldigen zu müssen.
Theo Labritzke hatte zwei Tage zuvor bei seinem Gemüsehändler den wöchentlichen Einkauf getätigt. Wie sich das bei einem guten Kunden gehörte, bekam er dort ab und zu was zugesteckt, was nachher nicht auf dem Kassenzettel erschien. Bisher stellte sich das in aller Regel als eine kleine Portion real existierender Sozialismus heraus, den Labritzke fein säuberlich zu dem Angesparten in den Küchenschrank legte und anschließend gut verschloss. So kam es, dass er diesmal ebenso davon ausging, es befände sich die übliche Aufmerksamkeit in dem Päckchen, das die Verkäuferin in seinem Einkaufskorb verschwinden ließ. Also schlug er nicht sofort seinen Weg nach Hause ein, sondern den, der ihn geradewegs zu seinem Stammwirt im ›Alten Peter‹ bringt. Dort angekommen, beglich er zuerst seinen real existierenden Deckel, um dann gleich einen neuen zu beginnen. Nach mehreren Gläsern Bier und den dazugehörigen Schnäpsen machte sich Labritzke endlich auf den Weg in die volkseigenen vier Wände. Dort angekommen verstaute er zunächst das erstandene Gemüse im Kühlschrank, als ihm das ominöse Geschenkpäckchen in die Hände fiel. So schnell er es vom Boden seines Einkaufskorbes aufhob, vergleichbar schnell warf er es direkt wieder in den geflochtenen Korb zurück. Im ersten Moment wusste er wahrhaftig nicht, ob er jetzt geträumt oder sich wahrhaftig richtig die Finger verbrannt hatte. Ganz vorsichtig griff Labritzke nochmals an dieses kleine, unscheinbare Etwas. Er brauchte es gar nicht mehr anzufassen. Gleich bei der geringsten Annäherung bemerkte er diese extreme Hitze, die von dem Päckchen ausging.
Theo Labritzke hatte sich frühzeitig angewöhnt, alle Vorkommnisse, die nicht in sein real existierendes Weltbild passten oder von einem der real existierenden Übersozialisten nicht für gut befunden wurden, in aller Ruhe an sich vorbeiziehen zu lassen, was ihm jede Menge Ärger ersparte und einen längeren Aufenthalt in seiner Schnapskammer bescherte. Daher ließ er das Päckchen sein und verschwand bis zum Morgengrauen in seiner Schnapskammer.
Reichlich übernächtigt und mit einem riesigen Kater im Hinterkopf kroch er am nächsten Morgen auf allen Vieren aus der Kammer in Richtung Küche, um das Raubtier in der Spüle mit eiskaltem Wasser zu ertränken. Zwangsläufig führte ihn seine Kriechspur am Kühlschrank vorbei, wo noch immer der Einkaufskorb stand – mit dem verdammten Päckchen. Sofort fühlte er die Hitze, die ihm entgegenschlug und seinen Kater noch aggressiver machte. Labritzke wusste instinktiv, dass ihm diesmal seine Ignoranz im Dienste des Sozialismus nicht weiterhelfen würde. Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff er nach den alten Kochbüchern von 1953, die ihm seine Mutter hinterlassen hatte. Und siehe da, er wurde tatsächlich fündig: Im Anhang des vierzehnten Bandes wurde auf eine Kohlsuppe hingewiesen, die am besten stark verkocht und zu den unmöglichsten Zeiten serviert, schmecken würde. Dieser Suppe sei früher selbstverständlich eine Prise der Freiheit der Andersdenkenden beigefügt worden. Im Laufe der Jahre sei es jedoch immer seltener zur Anwendung gekommen, da diese wegen ihrer hohen Hitzebeständigkeit schwer zu handhaben sei. Die Beschreibung bestärkte Labritzke in seiner Annahme, er müsse im Besitz der Freiheit des Andersdenkenden sein. Er spürte, wie ihm der Angstschweiß langsam am Rücken entlang hoch kroch. Sofort kontrollierte er, ob alle Schränke, in denen er real existierenden Sozialismus deponiert hatte, nur ja gut verschlossen waren. Anschließend nahm er aus dem Wohnzimmer die Isolierdose, in der er normalerweise seine Portion Sozialismus für den täglichen Gebrauch aufbewahrte, legte mithilfe der Kohlenzange die vermeintliche Freiheit des Andersdenkenden vorsichtig hinein und verschloss sie sorgfältig. Den alltäglichen Sozialismus steckte er in seine Hosentasche und machte sich mitsamt der Isolierdose auf zum örtlichen Regionalbüro der Staatssicherheit. Nach einer detaillierten Schilderung aller Vorkommnisse der letzten vierundzwanzig Stunden durfte Theo Labritzke das Stasi-Büro ohne seine Isolierdose und deren Inhalt verlassen. Er war sich sicher, genau richtig gehandelt zu haben. Aber noch sicherer war er sich der Tatsache, dass dieser Gemüsehändler mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seinen letzten Kohl verkauft hat.
„Hoch soll er leben”-Rufe und lang anhaltender Applaus seiner Partygäste bescheinigten Theo Labritzke erneut sein tadelloses Verhalten. Sogar Matuschek unterbrach für einen Moment seine Turnübungen mit der Nachbarin und stammelte etwas, das ganz ähnlich klang wie «So kann es kommen.«
Erich Kanülle rappelt sich langsam vom Fußboden seines Badezimmers auf. Er musste raus aus dieser Wohnung, raus an die frische Luft. Noch besser wäre es vielleicht, wenn er in den ›Alten Peter‹ ginge. Erfahrungsgemäß würde er bestimmt Labritzke dort antreffen. Im Flur durchsucht Kanülle noch einmal alle Manteltaschen. Es hätte ja auch sein können, dass er in Ungedanken seinen real existierenden Sozialismus dort verstaut hat, als unter der Tür die neueste Ausgabe des ‘Langlebesozialismus in Wort und Bild’ durchgeschoben wird. Kanülle will das ›Neue Deutschland‹ bereits achtlos auf die alte Holzablage werfen, als ihm ein großes Foto auf der ersten Seite stutzig macht:
Dort abgebildet steht die komplette Greisenriege des Politbüros – allesamt mit stark bandagierten Händen. Darunter in großen Lettern ein Aufruf, mit dem Erich Kanülle in diesem Moment rein gar nichts anzufangen weiß:
Wir tauschen ab sofort politische Gefangene in jeder Stückzahl gegen Brandsalbe ein.
Kopfschüttelnd legt er das ‘Neue Deutschland’ zur Seite und geht in sein Wohnzimmer zurück, um den Fernseher anzuschalten. Was er dort sieht, bestärkt ihn wiederum in seinem Glauben an die Machbarkeit im real existierenden Sozialismus. Das Politbüro hatte es offenkundig tatsächlich geschafft, innerhalb weniger Stunden hunderttausende politische Gefangene zum Austausch gegen Brandsalbe zu bewegen. Alle standen sie vor den bekannten Grenzübergängen zum Westen und warteten geduldig auf ihren Austausch. Einige ganz Wahnsinnige konnten es nicht mal abwarten und sprangen gleich über die Mauer. Ohne Zweifel, es waren alles politische Gefangene, schließlich hatte keiner auch nur die kleinste Portion real existierenden Sozialismus im Reisegepäck.
Die ganze Geschichte und noch viel Unfassbares mehr, gibt es auf diesem Kanal:
Soll noch mal einer sagen Geschichtsunterricht wäre langweilig.
Erich Kanülle rules! 😎
... und ich war bis jetzt der Meinung, dass dein zweiter Vorname Erich ist.
Der 9. November 1918 ist auch gedenkenswert.
In der expresszeitung.ch soll es ein .pdf (kostet was) geben, das über den Krieg gegen Deutschland seit ca. 1900 berichtet.
Ludendorff oder Lenin - Veränderungen an einem bestimmten Datum zu in Erinnerung zu halten, erachte ich als extrem wichtig!
Danach ist lediglich unser Verstand gefragt.
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