AC/AB

in #deutsch3 years ago (edited)

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Blunt saß gemütlich im Schneidersitz auf dem Boden, umringt von Mülltonnen und großen Papiercontainern, die in einer Nische zwischen der Turnhalle und dem Schulgebäude standen. Er schien sich pudelwohl zu fühlen, obwohl die Hitze den Abfällen einen bestialischen Gestank entlockte. Der Lärm der großen Pause kam nur gedämpft durch den Schutzwall aus Plastik, Restmüll und Papier. Nervös stand Jenny an dem Loch im Maschendrahtzaun, der die Müllecke vom restlichen Schulgelände trennte.
"Na Locke, was is'? Komm rein, sonst sehen sie dich noch."
Sie wollte sich vor Blunt keine Blöße geben, aber wohl war ihr nicht dabei. Sie fuhr sich durch ihre kurzen Locken, die sie seit Kurzem voller Stolz knallgrün gefärbt hatte. Der Gestank schreckte sie ab und was wäre, wenn sie erwischt würden? Was würde ihre Mutter und ihre Klassenleiterin sagen? Aber hier war sie, die neue in der Clique, mit Blunt, den sie für so etwas wie den inoffiziellen Anführer hielt. Ihre Unsicherheit schien man ihr anzusehen, zum Glück konnte er ihre Gedanken nicht lesen.
"Ach komm schon, der Gestank is' halb so wild, man gewöhnt sich dran."
Mit einem Ruck schlüpfte sie durch das Loch und fühlte sich, als hätte sie den Sprung von einem Zehnmeterbrett gewagt.
"Willkommen!"
Er grinste, breitete die Arme aus und zeigte seine hagere, von einem ausgewaschenen Bandshirt bedeckte Brust.
"Mi casa es su casa."
Er hielt ihr ein fast leeres Päckchen Zigarettentabak und eine zerknüllte Packung Papers hin.
"Willst du auch?"
Gerade noch froh, den Sprung gewagt zu haben, tauchte vor ihr ein neuer Abgrund auf - aber diesmal musste sie nicht lange überlegen.
"Nee du meine Mum riecht so was. Die ist sowieso ein totaler Bluthund."
Kurz sah es so aus, als würde er sie auslachen wollen, aber er musterte sie nur für einen Moment.
"Hast recht. Lieber unter dem Radar bleiben, erspart einem 'ne Menge Ärger. Meine Eltern geben einfach 'nen Fick auf alles, was ich mache."
Bedächtig drehte er sich eine Zigarette, dann kramte er in den Hosentaschen seiner verwaschenen Jeans, schnaubte und durchsuchte die Taschen seiner Lederjacke, die neben ihm lag. Die Nieten und Ketten klimperten, Jenny sah sich vorsichtig um.
"Ey, wenn das einer hört!"
"Ha! Habs!"
Er hielt triumphierend ein billiges Einwegfeuerzeug in die Höhe.
"Nur die Ruhe, Locke. Die Lehrer sind damit beschäftigt, die Schafherde zu hüten, denen fällt gar nicht auf, dass ein paar schwarze fehlen."
Er strich sich die Haare seines strähnigen Irokesenschnitts hinter ein Ohr und zündete seine krumme Zigarette an.
"Du Blunt, wo sind eigentlich die anderen?"
"Die schwänzen, weil sie auf so ne Demo in der Innenstadt gehen."
"Echt? Worum geht's? Und wieso bist du nicht dabei?"
"Ach um diesen einen Nazi-Stadtrat, der neulich etwas nicht so Kluges online gestellt hat. Aber die Planung und die Leute, die hingehen, sind totaler Mist."
Rauch quoll langsam aus seiner Nase.
"Sind einige Typen dabei, die nur Steine schmeißen wollen, das gibt nur Ärger und irgendwann sacken die Bullen einfach jeden ein, den sie zu fassen kriegen. Da halt ich mich lieber raus."
"Du meinst den Typen, der über das Flüchtlingsheim gepostet hat? Ist der nicht auch in der AFD? Eigentlich müsste man da schon hin, nur um zu zeigen, dass man nicht seiner Meinung ist."
"Ja, vielleicht. Aber warum sollte ich mein schönes, weißes Führungszeugnis riskieren, nur weil er ein Idiot ist? Es gibt intelligentere Wege, seine Meinung zu sagen. Außerdem muss man sich als Opposition nicht immer selber ein Bein stellen."
Sie zog die Stirn kraus, die Aussage irritierte sie, Blunt war doch der verwegene Rebellenanführer, ein Draufgänger, wie war es möglich, dass er so dachte? Diesmal schien er ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten.
"Überleg doch mal, wenn ich jetzt wegen so einem Kleinscheiß verknackt werde, kann ich eventuell in Zukunft gewisse Dinge nicht mehr tun oder sagen, ohne mich selbst lächerlich zu machen. Es schwächt meine Position und das wiederum würde genau diesen Typen in die Hände spielen. Also halt ich mich bei so was lieber raus."
"Was haben die anderen gesagt?"
"Sie haben es nicht verstanden ..."
Er seufzte und starrte kurz vor sich hin, als würde er auf dem durchgerubbelten Leder seiner Stiefel mehr erkennen als nur, dass er bald neue brauchen würde.
"Aber hey! Das hätte ich fast vergessen, ich hab was für dich. Du hast mich doch neulich gefragt, ob ich dir 'n bisschen Musik empfehlen kann."
Er reichte ihr einen USB-Stick.
"Blunts finest. Ich hab dir auch 'n bisschen was von meiner Lieblingsband da zugepackt, das The Dead Frog Project hat bei mir 'ne Weile gebraucht, bis es gezündet hat, aber als ich's dann hatte, war es einfach nur geil. Hör einfach mal rein."
Er warf einen flüchtigen Blick auf sein uraltes Klapphandy.
"Oh Fuck, der Freigang ist schon vorbei, wir müssen los."
Er drückte seine Zigarette sorgfältig auf dem Boden aus, schnippte die Kippe durch den Maschendraht und sprang auf.
"Machs gut Locke! Wir sehen uns!"
Sie schlüpften durch das Loch und rannten in Richtung des Schulgebäudes. Blunt sprintete zum Seiteneingang der Oberstufe und Jenny nahm die Diagonale über den Schulhof zum Haupteingang, zu den Räumen der Mittelstufe.

Mittwochs war einfach der beste Tag, um nach Hause zu kommen, sturmfrei bis in den späten Abend, dank der Doppelschicht, die ihre Mutter einlegte. Voller Genugtuung knallte sie die Wohnungstür in den klapprigen Rahmen und kicherte leise in sich hinein, als ein Stockwerk tiefer die Hausbesitzerin laut ins Treppenhaus keifte. Sie pfefferte ihre Schuhe und den Schulrucksack in eine Ecke der Garderobe und sprang auf fast durchgewetzten Socken über kalte Fliesen in die Küche. Nach dem dürftig ausgeleuchteten Flur prallte sie in der Küche gegen eine Wand aus strahlendem Licht. Jede Oberfläche glitzerte und reflektierte das Sonnenlicht, das durch zwei frisch geputzte Fenster hineinschien. Alles war säuberlich geordnet und organisiert, beinahe wie in einem Möbelkatalog. Sie sah sich kurz um, neben der Spüle stand ein sorgfältig angerichteter Teller mit einem Käsebrot und einigen Karottenschnitzen. Auf der Folie, die sich über ihrem kargen Mittagessen spannte, klebte ein kleiner Zettel: "Hallo Maus, ich gehe heute noch einkaufen. Bitte bring dein Zimmer wenigstens ein bisschen in Ordnung. Küsschen Mama."
Gerade hatte sie sich vorgenommen, den Nachmittag in Ruhe auf ihrem Bett zu verbringen und Blunts Musik zu hören und dann das! Genervt knüllte sie Folie und Papier zusammen, öffnete den Müllschrank unter der Spüle, warf und verfehlte den Mülleimer. Das Knäuel verschwand im Dunkel der Küchenkonstruktion. Wütend schlang sie das belegte Brot und die Karotten hinunter, dabei krümelte sie etwas mehr und ignorierte es auch mehr als sonst. Fast hätte sie den Teller in die Spüle geschmissen, bremste sich aber im letzten Moment und stellte ihn nur unsanft in das blanke Stahlbecken.

Auf dem Weg in ihr Zimmer griff sie ihren Rucksack, dann öffnete sie ihre Tür mit einem Tritt. Das Tor zu ihrem Reich schwang auf, sie schlüpfte hindurch, dann prallte die Tür gegen etwas Weiches und schloss sich wieder. Vor ihr erhob sich eine Hügellandschaft aus Heften, Büchern und Krimskrams, die aus einer Klamottenebene ragte. Das Zentralmassiv dieses Panoramas war ihr großes Metallbett, das sich wie eine Festung aus dem Chaos erhob. Eigentlich hatte das alles etwas von einem sich ewig ändernden Kunstwerk, irgendwie war ihr Zimmer ein Teil von ihr. Sie mochte, wie sich alles natürlich ergab, aber was wusste ihre Mutter schon? Eine kleine Pause hatte sie sich auf alle Fälle verdient, dann würde sie wie immer alles unter ihr Bett schieben, bis es nach und nach wieder hervorquoll.
Mit einem weiten Schritt über einen kleinen Canyon aus Schulbüchern und einer eleganten Drehung lies sie sich auf ihr ungemachtes Bett sinken. Sie nahm ihren Rucksack auf den Schoß und wühlte in seinem krümeligen Unterholz, schließlich fand sie Blunts USB-Stick zwischen den zerknitterten Blättern ihres Collegeblocks. Der Rucksack rutschte unbeachtet auf den Boden, als sie sich quer über das Bett zu ihrem Schreibtisch lümmelte. Mit den Füßen in das Kopfende gehakt tauchte sie zu ihrem alten Computer ab. Nach mehrfacher Betätigung des klebrigen Powerbuttons erwachte die Elektronik röchelnd zum Leben. Wartend sah sie auf den Bildschirm, weiße Schrift ratterte über schwarzen Grund. Als der Computer endlich hochgefahren war, kamen ihr ernsthafte Zweifel an ihrer akrobatischen Lage. Ihre Beine begannen zu krampfen, sie steckte den USB-Stick in den einzigen noch funktionieren Anschluss und startete die Wiedergabe, dann zog sie sich mit letzter Kraft auf ihre Matratze zurück.

Aus den überforderten Lautsprechern schwoll eine Klangwand hervor, verzerrte E-Gitarren wurden von einer wirren Taktstruktur voran gepeitscht. Der Gesang setzte ein, wütend geschrien und nur halb verständlich. Hier und da meinte sie ein „fuck the cops“ heraus zuhören. Wer brauchte schon einen Text, wenn die Musik allein ein Statement war?
Sie träumte von Szenen, die sie nur aus Fotografien kannte. Die Musik nahm ihre Hand und führte sie zu brennenden Straßenbarrikaden und fliegenden Steinen. Maskierte Gesichter mit bunten Haaren kämpften entschlossen gegen eine homogene Masse aus Uniformen, Helmen und Schilden. Sie fühlte die raue Oberfläche eines Pflastersteins, sie holte aus und mit einem schrillen Pfeifen endete das Lied.
Gespannt wartete sie auf den nächsten Riff, doch statt den gewohnten Instrumenten setzte ein Synthesizer ein. Erst nur ein Brummen, dann ein langsames Auf und Ab, zu dem sich nach einer Weile kleine Akzente gesellten. Hier ein Rascheln, da ein leiser Gong, Regengeräusche und das Rauschen des Windes. Die Straßenschlacht in ihrem Kopf war vorbei, die umkämpften Häuserschluchten bröckelten. Ruinenalleen reichten bis zu einem von Staubwolken verwaschenen Horizont. Sie verlor sich und wusste nicht, ob ihr das gefiel, die Klangcollage lullte sie ein und wiegte sie in Trace. Am Rande ihres Bewusstseins stellte sich die Frage, ob das jetzt so weitergehen würde, da setzte eine Stimme ein, die dunkel und feierlich intonierte:

"Feuer fauchend speit,
vernichtet alles weit und breit.
Vereint die apokalyptischen vier.
Die Krone der Schöpfung ist das Tier.

Geblendet von eigener Herrlichkeit,
Vergewaltigung der Dreifaltigkeit.
Egozentrik im gütigen Gewand,
sozial verträglicher Weltenbrand.

Wahrnehmung gegen Realität.
Die Existenz schwindet in Egalität.
Die Leere wird niemand vermissen.
Das Universum schläft auf einem ruhigen Kissen."

Die Musik hatte sie so gepackt, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sie in ihrem Bett zurückgesunken war, erst die letzten, leiser werdenden Geräuschen holten sie aus ihren Gedanken. Noch immer träge und schläfrig sah Jenny auf den Bildschirm, Interpret: "The Dead Frog Project", Song: "Ihr und wir". Das hatte Blunt also gemeint mit "einfach nur geil", was der so alles gut fand. Aber ehe sie entscheiden konnte, ob sie das Lied mochte, ließ der Computer das nächste Lied erklingen.

Ein kräftiges, fröhliches Intro blökte los, Blechblasinstrumente und Bassgitarre, begleitet von einem hibbeligen Schlagzeug. Das konnte unmöglich die gleiche Band sein. Sie linste wieder auf die Mattscheibe, Interpret: "The Dead Frog Project", Song: "Acht Cola, Acht Bier!".
Die psychedelische Postapokalypse wich Strand und Palmen. Gute Laune vibrierte in jedem, leicht schrägen Ton. Alles war einfach, alles war lustig. Ihr Fuß wippte im Takt noch ehe sie es merkte. Mit jeder Note wurde ihr Grinsen, dass schon der Titel ausgelöst hatte, breiter, dann setzte der Sänger ein. Seine Stimme hatte sich verändert, aus dem düsteren Weltuntergangspropheten war ein Typ im Hawaiihemd geworden, der bierselig in sein Mikrofon grölte:

"Seine fette Schwarte presst er in eine Uniform.
Er weiß: Ein guter Mann, der geht konform.
Er hält sich für einen von den Guten
und dafür lässt er andre bluten.

Mit dem Schlagstock zeigt er Kompetenz
und kompensiert seine Impotenz.
Er ist das Gesetz und hat immer recht,
wenn ich ihn sehe, wird mir schlecht.

Sein Wortschatz ist eher rudimentär,
und der Satzbau fällt ihm schwer.
Aber als Mann der Exekutive
findet er für Frauen immer Adjektive."

Sie wollte tanzen. Nichts an ihr konnte mehr dem Rhythmus widerstehen. Ihre Finger trommelten auf der Bettkante und beide Füße hämmerten auf imaginären Fußmaschinen. Aber ehe sie aufspringen konnte, war die Party vorbei.
Ein gedämpftes Saxofon klagte dem schwindenden Tageslicht sein Leid und aus einiger Entfernung brandeten seichte Klavierakkorde an den verlassenen Partystrand. Die untergehende Sonne schien durch große geöffnete Fenster, im Halbdunkel bewegten sich luftige Vorhänge. Aus der Partystimmung wurde Ekel. Das hörte sich genau so an, wie die Musik, die ihre Mutter hörte, bevor sie zu ihrem Freund fuhr. Das fröhliche Grölen wurde zu einem rauchigen Raunen:

"Im Dienst ist er ein ganzer Mann,
Daheim zieht er sich das kleine Schwarze an.
Dann ruft er sich den Eugen her,
voll auf Heroin gibt es keine Gegenwehr.

Der ist wirklich beschissen dran,
für nen Fuffi lässt er jeden ran.
Anal, Oral, das ist ihm egal,
seine Kundschaft ist international.

Eugen hat ihm heute etwas mitgebracht,
das sofort seine Lust entfacht.
Nach zwei Blauen und einem Löwenbräu
steigt die Erregung und fällt die Scheu.

Den Körper voll mit Schuppenflechten,
so bückt er sich für den Gerechten.
Kurz und knapp zeigt er Autorität,
dann ist es Zeit, dass Eugen geht."

Jenny fühlte sich, als hätte ihr jemand Eiswürfel in den Kragen gesteckt. Die Bilder in ihrem Kopf gefielen ihr ganz und gar nicht. Je mehr sie versuchte, sie wegzuschieben, desto präsenter wurden sie. Ein dreckiges Zimmer, schmuddelige Bettwäsche, die vergilbten Vorhänge zugezogen, ein fetter Typ in einem schwarzen Minikleid, dessen Saum mit schmierigen Flecken verziert war. Sie sah einen sehnigen, dürren Junkie, der sich wie eine Marionette bewegte und roch fast das widerliche Miasma aus Rauch und Schweiß. Aber das "The Dead Frog Project" war immer noch nicht fertig. Teilnahmslos und gelangweilt klimperte das Klavier dahin. Der Sänger war nun ein Sprecher, der aus einem Sachbuch rezitierte:

"Aber nach einigen erfüllten Tagen
erfasste ihn ein leichtes Unbehagen.
Vergangen war der Spaß am Wasserlassen,
es tat schon weh, ihn anzufassen.

Es kleckerte der Polizistenstift.
Jede Hose sofort komplett versifft.
Es gibt Tage, da geht die Wahrheit Streife
und das Ego bückt sich nach der Seife.

Man muss sich fragen, was ist eigentlich passiert?
Ist er wirklich so? Oder hat ihn etwas pervertiert?
Steht hinter der ganzen Polizeigewalt
ein Arschloch oder ein Ritter von der traurigen Gestalt.“

Was für eine Scheiße war das denn? Das Gefühl des Ekels hatte sich gegen sie gewendet, Bullen waren einfach nur Systembücklinge! Kleine, autoritätsgeile Arschkriecher ... In ihrem Kopf tobte nun wieder eine Straßenschlacht, eine alte Wahrheit brandete gegen eine neue. Schimpfend wehrten sich die alten Gedanken, tobend brausten Phrasen, Sprüche und Beleidigungen wie Geschosse durch ihre Synapsen. Aber die neue Wahrheit neutralisierte jedes Projektil mit einer Leichtigkeit, die ihre Wut immer heißer glühen ließ. Sie sprang von ihrem Bett zu ihrem Computer und rupfte den USB-Stick aus dem Anschluss. Als sie sich schwungvoll umdrehte, stolperte sie über einen der vielen Krimskramshügel, rang um Gleichgewicht und machte einen Ausfallschritt. Ihre dünnen Socken waren machtlos gegen den stechenden Schmerz, den die Haarklammer hervorrief, auf die sie trat. Mit einem zornigen Schrei trat sie gegen einen weiteren Stapel und traf mit dem anderen Fuß genau auf die Ecke ihres Lateinbuches. Geschlagen auf allen Ebenen humpelte sie zurück zu ihrem Bett und rieb sich die Fußsohle des einen und den Spann des anderen Fußes. Die Erkenntnis war bitter, all die Reime, die sich gemerkt hatte, all die Slogans, die sie skandiert hatte, waren wertlos. "Die Bullen üben fleißig, für ein neues dreiunddreißig!" war genau so pauschalisierend, engstirnig und leer wie "Ausländer raus!". Ihr Blick schweifte über den Boden, aus dem chaotischen Gesamtkunstwerk war eine Müllhalde geworden. In den stolzen Hügeln ihrer Individualität sah sie nun die Dünen ihrer Faulheit. Es fehlte nur noch ein fetter Bulle im kleinen Schwarzen.

Sie hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete und den typischen Seufzer ihrer Mutter, denn sie jeden Mittwoch nach ihrer Doppelschicht ausstieß.
"Hallo Maus! Hast du schon Abend gegessen? Ich war noch ... ."
Schritte näherten sich ihrer Tür und es klopfte vorsichtig.
"Maus?"
Die Tür öffnete sich einen Spalt und das erschöpfte Gesicht ihrer Mutter sah vorsichtig hinein. Dann wurde der Spalt weiter und die Erschöpfung wich ihr aus dem Gesicht. Blankes, der Entgeisterung nahes Erstaunen glätteten ihre Sorgenfalten.
"Oh Maus! Das ist aber wirklich ordentlich! Keine Haufen unter dem Bett! Hast du etwa auch gesaugt? ... Deine Regale ... staubgewischt? Was ist passiert?"
"Lass mich in Ruhe!"

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