Ich bin ein Mensch. Nicht schlecht, nicht gut, sondern einfach nur das.
Ich sitze im Zug und gegenüber von mir setzt sich Jemand.
Er hat offensichtlich dieselbe “geographische Abstammung” wie ich, nur dass meine Eltern in den 60ern des letzten Jahrhunderts freiwillig eingewandert sind und er ein Flüchtling des Chaos ist.
Ich schaue auf mein Handy, was es für Nachrichten gibt, was ich Cooles/Gehaltvolles posten kann und ärgere mich, dass ich 10 Minuten zu spät zu dem 0830 Termin sein werde.
Er hat einen Rucksack. Er wühlt in dem Rucksack. Er riecht sehr stark. Ich ertappe mich wie ich Angst vor dem Rucksack zu haben scheine. Aber als er 10 Minuten lang darin kramt, wird klar: Der Rucksack ist sein Hab und Gut. Zahnbürste, Zahnpasta, Duschgel, Klopapier, Nagelknipser holt er raus und betrachtet diese Dinge auf eine — eigentümliche Weise.
Meine Angst weicht einer großen, einer unendlichen Scham. Was ist mit mir los? Könnte das nicht ich sein, könnten das nicht meine Kinder sein? Und was kann, was soll ich tun, um zu helfen. Soll ich ihn ansprechen? Ich habe doch gar keine Zeit, bin eh schon zu spät für den 0830 Termin, der auf vielerlei Hinsicht wichtig ist für die Aufgabe, die ich bei dem Startup habe…haben will…werde…wenn wir Investoren überzeugt haben…
Was ist gerecht? Was richtig? Was falsch? Das Hamsterrad duldtet keine Samariter.
Jetzt schaut er mich an — ja die Scham treibt mich dazu, meine Gefühle und resultierenden Gedanken sofort nieder zu schreiben. Und er schaut mich mit einem sehr stechenden Blick an.
Der Blick schmerzt. Er tut verdammt weh. Er schaut mich ohne Unterlass an. Er starrt mich an. Stehe ich auf?
Tue ich ihm dann auch weh? Wenig hat mir in meiner Kindheit mehr weh getan als dieses Aufstehen von Menschen, die einem mit dem Blick sagten, dass sie aufstehen, weil sie Angst haben oder Abneigung verspüren.
Angst vor dem Unbekannten — Abneigung vor dem anders Aussehenden.
Er macht mir auch Angst. Weil ich weiß, welche unmenschlichen Situationen und apokalyptischen Kindheiten dieser nun 28 Jahre währende Bürgerkrieg in der Heimat meiner Eltern angerichtet hat. Ich schätze, er ist zwischen 18 und 24. Ist er es, so hat er nie Ordnung, Staat, Regierung, Gesetze kennen gelernt — nur Krieg, das Recht des Stärkeren und unmenschliche Bilder überall. Zerstörte Städte, Trümmer und Wracks, Leichen und Invalide.
Er schaut weg. Was unterscheidet uns? Tüchtigkeit, Fleiß, Bildung — wohl kaum.
Glück. Einfach nur dieses unverständliche Glück.
“Die Gnade der räumlich und zeitlich glücklichen Geburt” — so oder so ähnlich hätte es Helmut K. wohl formuliert.
Aber es tut weh. Es ist jetzt ein innerer Schmerz, während er aus dem Regionalexpress aus dem Fenster schaut.
Mein Schmerz. Ich. Mir. Mein.
Ich bin kein Christ und gehöre keiner anderen “Buch”-Gemeinschaft an — dennoch empfinde ich wesentliche Aspekte vieler Religionen (insbesondere der überlieferten Aussagen der vermeintlichen Religionsstifter) als gleich.
Nächstenliebe im Christentum und die Pflicht des Muslimen jeden Tag den Bedürftigen zu Geben/Helfen — es ist dieselbe Absicht. Und in beiden Religionen gehört es zum Katechismus…wenn auch kaum noch Menschen das zum Imperativ ihres Handelns erküren.
Die Anderen. Die Theorien. Außerhalb. Von mir. Alle Gedanken kreisen um draußen.
Er schaut mich wieder an und greit an seine Tasche. Auch das macht mir wieder Angst. Die Angst beschämt mich wieder.
Ich könnte vor Wut und Trauer weinen! Würde gerne schreien, während ich diese Situation auszuhalten versuche.
Schreiben kann befreiend sein — es kann aber auch den Schmerz vertiefen. Ergründen und verstärken.
Ich weiß nicht, ob ich ein schlechter Mensch bin. Ich weiß aber, dass ich mehr tun muss als nur zu reflektieren. Und doch muss ich zuerst meine Familie versorgen, für uns vorsorgen, dem Startup, in dem ich gerade bin, Investitionen besorgen helfen.
Ich bin 10 Minuten zu spät zum Termin.
Er sitzt immer noch da. Schaut mich wieder an. Ich glaube, er weiß, dass ich mit Anstrengung der Situation zu entfliehen versuche.
Mein Handy bimmelt. Eine Nachricht. Wahrscheinlich eine Reaktion auf meinen Tweet, den ich bedeutungsschwanger absetzte, bevor ich in den Zug stieg. Denke ich. Hoffe ich.
Ich. Ich. Mein Rating, mein Scoring, meine Follower, mein Netzwerk. Meine Reputation. Meine. Meine. Meine.
Vorletzte Haltestelle bevor ich am Ziel bin. Noch 10 Minuten.
Ich bin kein schlechter Mensch. Ich bin doch nur…ich versuche doch auch nur…
Bin doch aufgrund der Herkunft meiner Eltern nicht verpflichtet, oder bin ich das?
Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Abgesehen von dem Aussehen und äußeren Merkmalen bin ich ihm doch nicht näher als alle Anderen im Zug?
Der Schaffner kommt. Gut gelaunter Typ.
Hat er eine Karte? Was wird jetzt passieren? Drehe ich durch?
Kein Schaffner — irgendwie kam er nicht…
Lautes Telefonat in slawischer Sprache nebenan. Auch der andere Typ — der mit dem telefoniert wird, ist zu hören.
Die Handy-Nachricht war kein Erfolg eines Tweets, sondern eine persönliche Nachricht meines Schwagers. Wann endlich mal alle WhatsApp und facebook löschen?
Egal, ob gut oder schlecht — manchmal ist es einfach unfassbar schwer, ein Mensch zu sein.
Eine dieser Bullshit-Bingo-Powerpoint-Maschinen, die ich so zu verachten gelernt habe, würde mit der Situation völlig anders umgegangen sein. Es hätte wahrscheinlich nichts in ihm ausgelöst. Oder?
Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Subjekt des Wirtschaftskreislaufs. Ich. Ich.
Manchmal wünsche ich, ich wäre nicht. Nicht in suizider Art, sondern in grundsätzlich existenzieller Art. Was sollen all diese Schmerzen und Ängste? Wieso diese ewige Arbeit an uns selbst?
Ich bin ein Mensch. Ob gut oder schlecht, werden andere bewerten.
Für ihn war ich heute ein zumindest abweisender Mensch. Wahrscheinlich ein schlechter Mensch. Ein Beispiel für die Kälte, die alle erfassen kann, die im Hamsterrad gefangen sind.
Ich. Die Anderen. Gründe. Ausflüchte?
Was für ein Start in den Tag. Ich bin jetzt schon 5 Minuten zu spät zu dem Termin. Wahrscheinlich 15 Minuten zu spät im Büro.
1 Stunde später.
Termin war so hippster wie das heute eben so ist. Alles Latte, Burnrate und Pitch. Und so.
Er.
Er hatte im Zug noch gefragt, ob das ein Laptop sei.
Als ich ihm antwortete, lächelte er.
Er sprach mich in der Sprache meiner Eltern an. Ich antwortete. Er lächelte.
Ich stand auf und ging zur Tür…verstört.
Bin ich ein Freak, nagen Komplexe an mir, rede ich meine Ignoranz schön oder gar eine Kombination aus allem?
Wie groß ist das Universum der menschlichen Gedanken? Was hat er die 30 Minuten unserer gemeinsamen Zugfahrt gedacht? Was hatte er gesucht? Wovor hatte er Angst?
War sein Blick nicht einfach der Versuch, ein Gespräch aufzunehmen?
Ich bin ein Mensch. Nicht schlecht, nicht gut, sondern einfach nur das.
Toller Text. Wir alle sind gleich und scheinbar eben nicht. Nur ein gemeinsam erlebtes Zugunglueck wuerde Euch auf die gleiche Stufe gebracht haben, auf die rein menschliche, elementare.
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