"...mehr Freiraum, als die Demokratie vertragen kann"
Zu den zivilisatorischen Errungenschaften der letzten 200 Jahre gehört zweifellos die Verankerung von Grundrechten in der Verfassung. Diese sind sogar justiziabel, der Staat ist an sie gebunden und kann ggf. vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt werden. Noch vor ein paar Jahren hätte ich meinen Text an dieser Stelle getrost beenden können. Aber das ist mittlerweile leider nicht mehr möglich, denn die ersten beiden Sätze, die ich gerade geschrieben habe, muß ich wohl bald in die Vergangenheitsform überführen. Die heiße Phase des Graswurzeldiskurses ist eröffnet. Es geht um die Gegenöffentlichkeit. Es geht um unsere Freiheit.
Anlaß dazu bietet das Hervorbrechen einer Geisteshaltung in der politischen Kaste unseres Landes sein, die Monika Grütters jüngst offenherzig im Tagesspiegel bekannte. Frau Grütters ist nun nicht irgendwer, keine Hinterbänklerin, kein Stimmvieh. Sie ist immerhin seit 2013 "Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien". Außerdem Mitglied in zahlreichen politikträchtigen Gremien, wie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem Kuratorium der Internationalen Journalisten-Programme e.V. (IJP), mit Leitungsfunktion in diversen Kultur- und Opferstiftungen und -verbänden sowie Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin. Eine Dame mit gewissem Einfluß also.
Ihre steile These lautet:[Derzeit] "ermöglicht das Internet derzeit mehr Freiraum, als die Demokratie vertragen kann [...] Damit stellt die Digitalisierung die Demokratie und den Rechtsstaat auf eine Bewährungsprobe: Wenn zivilisatorische Errungenschaften wie die Freiheit der Kunst, die kulturelle und mediale Vielfalt, die Sicherung geistigen Eigentums, der Schutz persönlicher Daten, das Recht auf freie Meinungsbildung und die Grundprinzipien einer demokratischen Kultur der Verständigung weiterhin Bestand haben sollen, brauchen die entsprechenden Regeln ein politisches Update: eine Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen."
Oder kurz gesagt: Die Grundrechte müssen weiter eingeschränkt werden, um sie vor sich selbst zu schützen. Denn sie gefährden die Demokratie!
Dazu muß eine europäische Regierung nicht mal sonderlich kreativ werden, sondern kann einfach den Empfehlungen anderer Staaten folgen. Im konkreten Fall des Netzwerkdurchsuchungsgesetzes ist man bereits einer Empfehlung von Iran und China gefolgt, wie "Reporter ohne Grenzen" (ROG) uns via Twitter mitteilten:
Quelle: Twitter
In der dort verlinkten Pressemitteilung wird ROG-Geschäftsführer Christian Mihr mit den Worten zitiert:
„Gerade beim Schutz vor digitaler Überwachung oder Löschpflichten für soziale Netzwerke hat Deutschland ein schlechtes Vorbild für andere Staaten abgegeben – und ist nach eigenen Worten Empfehlungen von Iran und China gefolgt.“
In der Rangliste der Pressefreiheit steht Deutschland aktuell auf Platz 15, Iran auf 164 und China auf 176 von 180 vergebenen Plätzen. Letztere hatten - so ROG -
"2013 gesetzliche Maßnahmen gegen die Verbreitung rassistischer, islam- oder ausländerfeindlicher Inhalte im Internet oder in den Medien an[geregt]. Solche Forderungen sind üblich für Länder mit starker Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, die solche Initiativen häufig für ein Vorgehen gegen unliebsame Berichterstattung missbrauchen."
Gefahr des Mißbrauchs gegen Regierungskritiker wie in autoritären Regimen! Die Watsche saß! Oder etwa doch nicht?
Am kommenden Dienstag muß sich Deutschland turnusmäßig in Genf der Befragung der übrigen 192 UN-Mitglieder zur menschenrechtlichen Lage in Deutschland stellen. ROG fordert dazu auf, die eigenen Defizite in diesem Bereich zu benennen und zivilgesellschaftliche Kritik aufzugreifen. Bereits im September hatte ROG zu diesem Zweck einen "Schattenbericht zur Lage von Journalistinnen und Journalisten" mit Kritik und entsprechenden Empfehlungen eingereicht. Darin wird u.a. das "Overblocking" durch das Netzwerkdruchsuchungsgesetz angeprangert. Heiko Maas kann sich übrigens etwas darauf einbilden, daß Rußland mittlerweile begeistert sein eigenes NetzDG geschaffen hat - nach deutschem Vorbild.
Was es mit der Mißbrauchsgefahr des NetzDG auf sich hat, sieht man daran, daß (regierungs-)kritische Stimmen vor allem bei Facebook und Twitter wegen Nichts gesperrt werden. Erwischt hat es u.a. schon den Islamkritiker Hamed Abdel-Samad, den Historiker Michael Hesemann, den Philosophen Jürgen Fritz, die Publizistin Birgit Kelle, den Autor Heiko Schrang, die Schauspielerin Silvana Heißenberg, die AfD-Politikerinnen Beatrix von Storch und Alice Weidel und unzählige mehr oder weniger prominente Zeitgenossen. Nicht einmal die eigentlich politische unverdächtige Baseler Zeitung kann mehr gefahrlos verlinkt werden.
An dieser Stelle darf auch die sog. "Böhmermannliste" nicht fehlen, der neueste Coup in Sachen Meinungsfreiheit bei Twitter: Jan Böhmermann hatte in seiner ZDF-Show "Neo Magazin Royal" dazu aufgerufen, politisch unkorrekte Twitter-Accounts zu melden und mit "Liebes"-Spam einzudecken. Fragen wirft auch Böhmermanns Ankündigung auf, eine Liste mit IP-Adressen dieser Nutzer an die Staatsanwaltschaft zu übergeben, während dem rechtstreuen Blogger aufgrund des Inkrafttretens der EU-Datenschutzgrundverordnung am 25. Mai schon seit Monaten graue Haare sprießen. Das ZDF als GEZ-finanzierter, heimlicher Sammler personenbezogener Daten?
Doch zurück zu Frau Grütters und den ihren: Die "Gefahr für die Demokratie" ist hier einmal mehr die Maske für ein viel tiefer gehendes Anliegen. Es geht um die Meinungshoheit, die Deutungshoheit, die Definitionsmacht. Die sozialen Medien sind deshalb so erfolgreich, weil sie jedem - aber auch jedem, der Lesen und Schreiben kann - die Möglichkeit geben, seine ganz persönlich Weltsicht einem großem Publikum zugänglich zu machen. Er kann also genauso am Diskurs teilnehmen, wie früher nur die, die Zugang zu Presse, Funk und Fernsehen hatten. Die sozialen Medien haben also eine Art Graswurzeldiskurs möglich gemacht. Wenn sich aber die Meinung von immer mehr Graswurzeldiskursteilnehmern immer weiter vom offiziellen Regierungsstandpunkt entfernt, wenn immer mehr Zweifler ihre Stimme erheben, müssen natürlich bei der politischen Kaste zwangsläufig die Alarmglocken angehen. Frau Grütters ertönt im vollen Geläut.
Posted from my blog with SteemPress : https://olet-lucernam.de/2018/05/06/mehr-freiraum-als-die-demokratie-vertragen-kann/
Wie bereits viele der Maßnahmen der jungen Vergangenheit kommt auch diese eher "schleichend" und in teurem Gewande daher. Nicht alles sind solche Trampel-Aktionen wie das anMAASende #NetzDG.
"Grundrechte und Demokratie schützen", daß hört sich im Michel-Ohr doch erstmal gut an, oder?
Als Gegenstück zur Printpresse wie der B***-Zeitung hat man Witzfiguren wie Böhmermann als erfolgreichen Transporteur dieser Methode erkannt, um neben der Intelligenzia, die längst ausreichend links-grün durchdrungen ist, auch den Stammtisch zu erreichen. Alles schön im Gleichschritt halten...
Was Frau Grütters da eigentlich gesagt hat, verstehen zu wenige.
Grundsätzlich ist bei mir auch der Verdacht noch nicht ausgeräumt, daß all dieses TamTam nur Nebelkerzen sind, um von den wirklich spannenden Dingen abzulenken.
Klasse formuliert - resteemed.
Guter und extrem wichtiger Beitrag.
Auch in den USA ist man sich dieses "Problems" sehr bewusst: