Die kleinen Freuden
In Südostasien ist alles anders: die Gerüche, die Farben, die Menschen, die Landschaft, das Essen. Auch die Zeit scheint hier anders zu vergehen. Aus „jaja, in 20 Minuten“ wird dann schnell mal eine Stunde, die Busfahrt „dauert so zwischen 14 und 18 Stunden“. Genau nimmt es hier keiner so richtig. Trotzdem läuft alles. Und das ist herrlich befreiend. „Die hohe Bewertung der Minute, die Eile als wichtigste Ursache unserer Lebensform ist ohne Zweifel der gefährlichste Feind der Freude. Möglichst viel und möglichst schnell ist die Losung. Daraus folgt immer mehr Vergnügung und immer weniger Freude.“ - Hermann Hesse, Frühling.
Ich habe mich bereits des Öfteren über unsere Arbeitsgesellschaft ausgelassen, über das Übel, den drögen Arbeitsalltag im Urlaub mit aller Macht kompensieren zu müssen. Einfacher ist es wohl, den Alltag mit kleinen Freuden zu füllen. Auf die müssen wir nicht bis zum nächsten Urlaub warten, denn sie warten jeden Tag vor unserer Nase darauf, von uns entdeckt zu werden. Nehmen wir diese Freuden bewusst wahr, müssen wir unsere Gier nach der großen Freude nicht im Urlaub ausleben, sondern können sie dort besonnen erleben. Das Problem dabei ist für die heutige Generation mit Sicherheit, dass dafür keine Werbung gemacht wird. Sie sind nach derzeitigen Maßstäben nichts Besonderes, und: sie kosten kein Geld. Dies sind alles Faktoren, die das „Glück“ der heutigen Generation Schnell-Schnell definieren.
Glück lässt sich aber auch in kleinen Dosen genießen. In Bingewatching-Zeiten ist dies sicherlich schwierig zu verstehen. Doch die kleinen Freuden sind immer eng verbunden mit Mäßigung. Wir finden sie überall, doch das übersättigte Gehirn des hart Arbeitenden nimmt sie kaum wahr. Es braucht mehr, es braucht viel - und das am besten schnell, um Stimulans zu erfahren. Anstatt sich auf dem Weg zur Arbeit an der Umgebung, der Natur zu erfreuen, bevölkern Smartphone-Zombies die Gehwege. Dabei kann es so einfach sein, mit den Augen das Schöne dieser Welt aufzusaugen, ohne Zeit zu verlieren, es liegt schließlich alles auf dem Weg. Dafür braucht es keine Social-Media-Strand-Bilder. Jeder sollte im buchstäblichen Sinne seine Augen öffnen und sie nicht durch die Smartphone-Brille betrachten. Und das nicht nur im Urlaub, sondern jederzeit. Die Welt ist nicht nur am anderen Ende schön - sie ist es auch vor der eigenen Haustür. Annie Dillard fasst es in ihrem naturphilosophischen Essay Pilgrim at Tinker Creek grandios zusammen: „The world is fairly studded and strewn with pennies cast broadside from a generous hand. But — and this is the point — who gets excited by a mere penny?“ Richtig. Wer interessiert sich schon für das Kleingeld, wenn woanders Scheine warten? Ein Übersättigter wird sich nicht nach den Münzen bücken, ein Hungriger aber wird sich daran erfreuen und sie mit Freuden aufheben.
Wer also täglich seine Augen offen hält und hungrig bleibt, wird die Pfennige dieser Welt auflesen und sich täglich bereichern. Mit dieser Bescheidenheit kann sich ein jeder ein erfülltes, reiches Leben bescheren. „Denn“, so Dillard, „wie wir unsere Tage verbringen, so verbringen wir unser Leben.“ Ab und zu finde ich es dann auch schön, im übertragenen Sinne Münzen für andere zu verstecken, indem ich Bilder von schönen Momenten mache und teile. Nicht, um mich selbst zu beweihräuchern, sondern für die Nimmersatten, versehen mit dem selbstlosen Hinweis, das Suchen nie aufzuhören. Das Geld liegt auf der Straße. Wir müssen es nur auflesen.
Mehr? Gern, hier: https://nebelmeerwanderer.com/
Schön geschrieben! Wo Dillard Recht hat hat er Recht :)
Habe eben auf Deinen Blog geschaut, sehr schöne und ansprechende Arbeit!
Ich danke dir - bedeutet mir sehr viel!
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