Rothbard zum libertären Konflikt: Ideale vs. Strategie
Murray Newton Rothbard [Bildquelle: reformedlibertarian.com]
In Zeiten, in denen sich Libertäre gegenseitig bekriegen, wenn es um Themen wie „wählen oder nicht?“ geht, sollten sich alle Beteiligte die Frage stellen: Haben uns Vordenker wie Murray Rothbard etwas mit auf den Weg gegeben? Eine ungefähre Richtlinie, an der wir erkennen können, ob unser Handeln sinnvoll und folgerichtig ist, wenn wir den Weg zum Ziel nicht verlassen wollen? Und ab wann verraten wir unsere Ideale, für die wir vorgeben einzustehen?
Ein Auszug:
Wenn nun also der Libertäre die sofortige Verwirklichung von Freiheit und die Abschaffung des Etatismus fordern muss und wenn ein Ansatz der kleinen Schritte kontraproduktiv ist, welche, auf die Zukunft ausgerichtete Strategie, soll dann ein Libertärer wählen? Muss er sich darauf beschränken, nur eine sofortige Abschaffung aller freiheitsfeindlichen Eingriffe zu fordern? Sind „Übergangslösungen“, praktische Schritte hin zur Freiheit, notwendigerweise illegitim? Nein, denn dies würde bedeuten, in eine andere, sich selbst widerlegende strategische Falle, ähnlich wie man sie im „linken Sektierertum“ vorfindet, zu fallen.
Zu lange schon sind Libertäre zu opportunistisch und haben den Blick auf das Wesentliche vernachlässigt, andere wiederum sind in die entgegengesetzte Richtung geirrt: sie verurteilen schreckhaft jedweden Fortschritt auf dem Weg zur Freiheit, da sie befürchten, im Zuge dessen die reine Lehre zu verraten. Da sie jedweden Fortschritt, der nicht zu hundert Prozent dem Ideal entspricht, ablehnen, leisten die Sektierer auf tragische Art und Weise ihrem angestrebten Ziel einen Bärendienst. So sehr wir uns alle wünschen, einen Zustand der totalen Freiheit auf einen Schlag zu erreichen, ist die Wahrscheinlichkeit für einen solchen magischen Satz, realistisch betrachtet, doch recht gering. Auch wenn soziale Wandlungsprozesse nicht immer nur kleinschrittiger Natur sind, so kommen sie doch gewöhnlich auch nicht in einem einzelnen großen Sprung daher. Mit ihrer Ablehnung von Übergangslösungen, als Zwischenschritt zum libertären Endziel, sind es die sektiererischen Libertären selbst, die es unmöglich machen jemals dieses Ziel zu erreichen. Die Sektierer können daher genauso „Totengräber“ der freiheitlichen Idee sein, wie es die Opportunisten sind.
Seltsamerweise ist immer wieder zu beobachten, wie einzelne Personen von einem dieser Extreme ins andere fallen und dabei jedes Mal den strategisch richtigen Weg missachten. So kommt es vor, dass der linke Sektierer nach Jahren der vergeblichen Konzentration auf seine intellektuelle Reinheit, ohne dabei aber etwas in der echten Welt bewirkt zu haben, verzweifelt auf Kosten seiner vormals hehren Ziele, in das berauschende Dickdicht des rechtslastigen Opportunismus springt, mit dem Ziel, wenigstens irgendwelche kurzfristigen Erfolge zu erzielen. Oder aber der rechte Opportunist, angewidert von seinen eigenen oder den seiner Mitstreiter gemachten faulen Kompromisse auf Kosten ihrer intellektuellen Integrität und ihrem höchsten Ziel, begibt sich bereitwillig in das linke Sektierertum, nur um jedweden strategischen Kompromiss, der auch nur leicht von der reinen Lehre abweicht, anzuprangern. Auf diese Art und Weise stützen und verstärken sich die eigentlich gegensätzlichen Lager gegenseitig und verhindern beide, das übergeordnete libertäre Ziel zu erreichen.
Woher kann es dann aber einen Maßstab geben, nach dem man beurteilen kann, ob ein Kompromiss oder ein Übergangsvorschlag als ein Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden kann oder als opportunistischer Verrat gebrandmarkt werden muss? Zur Beantwortung dieser entscheidenden Fragen stehen zwei zentrale Kriterien zur Verfügung: 1.) Egal, welche Übergangslösung auch gefunden wird, die freiheitlichen Werte müssen immer als das eigentliche höchste Ziel hoch gehalten werden. 2.) Kein Schritt und keine Maßnahme darf jemals diesem Ziel, explizit oder implizit, widersprechen. Eine kurzfristige Maßnahme mag in Teilen nicht so weit gehen, wie man es sich wünschen würde, sie sollte aber in jedem Fall immer im Einklang mit dem Endziel stehen – sollte sie es nicht, so steht die kurzfristige Maßnahme dem langfristigen Ziel entgegen und es kommt zu einer opportunistischen Zerschlagung von libertären Prinzipien.
Ein Beispiel für eine solche kontraproduktive und opportunistische Strategie kann man aus der Debatte um das Steuersystem entnehmen. Der Libertäre arbeitet darauf hin, einmal alle Steuern abzuschaffen. Von daher ist es für ihn als strategischen Zwischenschritt durchaus legitim, auf eine drastische Senkung oder gar Abschaffung der Einkommenssteuer zu drängen. Was er hingegen niemals befürworten darf, ist eine Steuererhöhung oder die Schaffung einer neuen Steuer. Wenn er beispielsweise für eine starke Kürzung der Einkommenssteuer eintritt, darf er als Ausgleich nicht eine Erhöhung der Verkaufs- oder irgendeiner anderen Steuer vorschlagen. Die Senkung oder besser gleich die Abschaffung einer Steuer ist immer eine widerspruchsfreie Reduzierung der Staatsmacht und ein bedeutsamer Schritt Richtung Freiheit. Eine Kompensation durch eine neue Steuer oder eine Steuererhöhung in einem anderen Bereich bewirkt genau das Gegenteil, weil so ein neuer und zusätzlicher Eingriff des Staates auf einem anderen Gebiet erzeugt wird. Die Einführung einer neuen Steuer oder einer Steuererhöhung widerspricht auf fundamentale Art und Weise dem libertären Grundsatz.