Friedo
Heute sind Friedo und ich eigentlich nur zwei Menschen, die sich auf die Zeitspanne eines ganzen Lebens bezogen, nur einen Bruchteil einer Sekunde begegneten und dann wieder für immer aus den Augen verloren. Doch diese Begegnung mit ihm war so intensiv, so eindrucksvoll, so bestärkend, dass ich sie nicht mehr vergessen werde.
Letztes Jahr im Frühsommer, fuhren mein Freund Lukas und ich gemeinsam mit dem Fahrrad durch den Waldpark in Mannheim und unterhielten uns, als wir plötzlich von einem , ebenfalls auf dem Fahrrad sitzenden Mann überholt wurden. Sein Fahrrad war bepackt mit Zelt, Schlafsack, Isomatte und einigen Seitentaschen. Ich fand die Erscheinung dieses Mannes so interessant, dass ich schneller in die Pedale trat, um auf gleicher Höhe mit ihm zu fahren. Ich musste ihn einfach ansprechen. Ich wollte wissen, was es mit diesem aus der Masse herausstechenden Mann auf sich hatte. Aus der Masse stach er nicht nur wegen seines bepackten Fahrrades. Er trug kurze, rote, locker sitzende Hosen, die in etwa ein Viertel seiner extrem braun gebrannten Oberschenkel bedeckte. Seine Waden waren sehr definiert und ich nahm an, dass das wohl nicht seine erste Fahrradtour zu sein schien. Er trug ein lässig, weit sitzendes weißes Shirt. Sein Gesicht war bedeckt von einem langen, weißen Bart, der tanzend im Fahrwind wehte. Seine Haare trug er lang und offen und sie reflektierten die auf sie treffende Sonne. Es sah beinahe so aus, als würden sie leuchten. Er erinnerte mich in seiner ganzen Erscheinung an einen Gandalf der Neuzeit.
Als ich mit ihm auf einer Höhe war, fragte ich ihn ganz unverblümt:“ Na? Wohin geht die Reise?“ Es schien als hätte er keine Berührungsschwierigkeiten mit anderen Menschen und antwortete mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen:“ Ich bin auf dem Weg nach England. Vor etwa drei Monaten bin ich in Griechenland gestartet.“
Als ich das hörte kam ich aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus. Jetzt brannte ich darauf mehr von diesem anregenden Menschen zu erfahren, also entschlossen mein Freund und ich ihn einfach ein Stück auf dem Fahrrad zu begleiten. Der geheimnisvolle Fahrradfahrer stellte sich als Friedo vor und erzählte uns, dass er Ende der 40er Jahre in Deutschland geboren wurde. Dort lebte er eine Weile und gründete eine kleine Familie, der zwei Kinder entsprangen. Eine Tochter und ein Sohn. Er ging nicht weiter auf seine jetzigen Familienverhältnisse ein, sondern erzählte angeregt davon, dass er schon seit Ende der Siebziger Jahre gänzlich auf sein Auto verzichtete und seitdem jegliche Strecke mit seinem Fahrrad zurücklegte. Er war mit seinem Fahrrad schon so ziemlich überall in Europa gewesen.
Am besten gefiel ihm dabei Griechenland, weshalb er sich einen Motorsegler kaufte und beschloss sein Rentnerdasein dort zu verbringen, wenn er nicht gerade wieder mit seinem Fahrrad auf Reisen war. Aus dem Gespräch ging nicht hervor, ob er alleine lebte, oder in einer Partnerschaft, aber im Endeffekt spielte das auch keine Rolle. Was mich viel brennender interessierte war der Grund seiner Fahrradreise von Griechenland bis nach England. Machte er das einfach nur aus Spaß? War das seine Art und Weise Urlaub zu machen?
Wie sich heraus stellte war Friedo zwar mittlerweile Rentner, doch erlernte den Beruf des Restaurators. Schon als er noch aktiv in diesem Beruf arbeitete nahm er unzählige Aufträge an. Für jeden dieser Aufträge musste er allerdings Zeit im Voraus planen, denn auch dorthin fuhr er ausschließlich mit dem Fahrrad. Er nahm Aufträge überall in Europa an, manchmal sogar außerhalb. Auch diesmal brachte ihn einer dieser Aufträge dazu von Griechenland bis nach England zu fahren.
Zu seinem Rentnerdasein verdiente er sich nebenher noch ein wenig Extra durch hier und da mal einen Auftrag unter der Hand. Während seiner Reise kehrte er niemals irgendwo ein, sondern lebte ausschließlich in seinem, auf dem Fahrrad mittransportierten Zelt, das er an allen möglichen Stellen in der Wildnis aufschlug.
„Überall da, wo es eben passte.“
Es interessierte ihn absolut nicht, dass das sogenannte „Wildcampen“ in Deutschland und in anderen Teilen Europas grundsätzlich verboten war.
„Mein Zelt ist doch grün. Ich bin so gut getarnt im Wald, die finden mich sowieso nicht. Und überhaupt, wer sind die eigentlich mir zu verbieten in öffentlichem Raum zu zelten? Der Wald gehört uns allen und dieses Recht lasse ich mir nicht nehmen.“
Hier teilten Friedo und ich die selbe Meinung. Wieso war es überhaupt möglich, dass irgendwer zu bestimmen hatte, wo ich zelten darf und wo nicht, solange ich niemandem und vor allem der Natur damit nicht schade? Wir waren auf einer Wellenlänge und verfielen in lange gesellschaftskritische Gespräche über Deutschland, die Welt, über Politik und darüber wie früher alles besser war. Ich mochte diesen Kerl.
Schon etwa eine Stunde fuhren wir neben Friedo her und hatten völlig Raum und Zeit vergessen, da sich die Gespräche mit ihm so interessant und originell gestalteten. Als wir an der Universität in Mannheim angekommen waren hielten wir an und setzten uns gemeinsam in den Schatten unter einem nahe gelegenen Baum. Es war ein sehr heißer Tag und das Thermometer zeigte 32 Grad an. Wir ruhten uns eine Weile aus, tranken etwas Wasser und führten unsere Gespräche fort. Ich erzählte davon wie unbedingt mein Freund und ich in Zukunft auch gerne außerhalb der Stadt leben würden. Weit weg von dem Lärm und der Hektik der Menschen. Am besten irgendwo auf einer Farm mit ein paar Tieren und einem Mehrgenerationenhaus für meine Eltern. Die Eltern meines Freundes leben leider nicht mehr. In Deutschland wollen wir nicht bleiben. Am Liebsten nach Neuseeland, zurück in das Heimatland meines Freundes. Friedo konnte das alles absolut nachvollziehen und bestärkte uns in unserem nicht so alltäglichen Lebenskonzept voll und ganz.
„Man muss etwas im Leben wagen und seine Träume niemals aufgeben und scheinen sie noch so fern von jeglicher, gesellschaftlicher Konformität.“
, sagte er. Man solle immer seinem Herzen folgen und das tat ich an diesem Tag, als ich meinen Mut zusammennahm und diesen interessanten und zufrieden dreinschauenden Friedo auf seinem Trekkingfahrrad ansprach.
Zum Abschied fragte ich ihn noch, ob man ihn irgendwie kontaktieren könne, doch irgendwie rechnete ich schon mit der Antwort, die er mir gab. „Ich habe kein Handy. Ich brauche keine Navigation auf dem Fahrrad. Wenn ich nicht weiß wo ich hinfahren soll, dann schaue ich auf die Schilder, oder frage die Menschen um mich herum. So habe ich schon die besten Leute kennengelernt. Eine Email Adresse habe ich auch nicht, außer die für meine Restaurationsaufträge und mit Social Media könnt ihr mich jagen. Ich lebe mein Leben so wie es kommt, ohne großartig was zu planen. Wenn es Probleme gibt, dann wird sich auch ohne Handy eine Lösung finden.“ Er gab uns die Hand, sagte uns, dass es schön war uns kennengelernt zu haben, schwang sich auf sein Fahrrad und radelte der tief stehenden Sonne entgegen. Wir schauten ihm noch einen Moment hinterher, bevor seine eindrucksvolle Erscheinung nach der nächsten Biegung verschwunden war.
Lukas und ich unterhielten uns noch eine ganze Weile über Friedo. Er hatte einen gigantischen Eindruck bei uns hinterlassen. Ich liebte seine unkonventionelle Art mit dem Leben umzugehen. Ein wahrer Lebenskünstler. Ich war beeindruckt von seiner inneren und äußeren Einstellung dem Leben gegenüber und er bestärkte mich in meiner Ansicht, dass man nicht gesellschaftskonform leben muss, um glücklich zu sein und nicht alle sturen Regeln und Gesetze befolgen musste, die einem als Ottonormalbürger auferlegt werden. Friedo zeigte mir, dass es auch noch Menschen da draußen gibt, die Freidenker sind und soziale Konstrukte sowie die Gesellschaft in ihren Grundfesten hinterfragen.
Lukas und ich machten uns mit einem Lächeln auf den Lippen auf den Weg nach Hause.
Foto von Bogdan R. Anton auf
https://www.pexels.com/de-de/foto/abenteuer-baume-dammerung-draussen-1088607/
Friedo ist wirklich beeindruckend, ebenso wie deine bildhaft geschriebenen Zeilen. Ich sehe Friedo richtig vor mir, wie er dem Sonnenuntergang entgegen radelt.
Es freut mich sehr @michelangelo3, dass ich für dich so bildhaft schreibe, dass du Friedo vor deinem inneren Auge sehen kannst. Das ist glaube ich so ziemlich das größte Kompliment, das man einem Autor/einer Autorin machen kann. Vielen Dank dafür :)
Gratulation! Für diesen schönen Beitrag wurdest Du für den Monatspreis der Liebe im Juni nominiert.
Weiter so!
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was für eine tolle story....habe begeistert mitgelesen-liebe solchne aussteiger geschichten--lg dir
Liebe @feuerelfe, vielen Dank für deine Antwort. Schön, dass dir meine Geschichte so gut gefällt. Aussteigergeschichten hab ich noch einige auf Lager, bzw. viele erlebte Abenteuer. Du kannst gespannt sein :)