Multiple Sklerose - Mein Langzeit-Erfahrungsbericht (zweiter Teil)
Plötzlich sitzt Du da. Denkst, dein Leben ist jetzt vorbei. Es macht ja sowieso keinen Sinn mehr, denn schliesslich hast Du ja jetzt MS… Das ist zu 80% sicher. 80% ist schon verdammt viel. Zu den 100% fehlen da nur noch 20%, also ist es nur noch eine Frage der Zeit bis Du dein Leben im Rollstuhl fristest.
Das waren Gedanken, die mir mit Anfang 20 nach der Diagnose, welche ja strenggenommen keine Diagnose sondern lediglich ein Verdacht, wenn auch ein ziemlich starker, des Neurologen war, nachdem er erste Tests veranlasst hatte, fast täglich durch den Kopf gingen. (Verdammter Schachtelsatz, sorry dafür.)
Mein Neurologe meinte auch, dass es noch zu früh sei, um allfällige weitere Schritte einzuleiten. Man müsse erst beobachten wie sich die Situation entwickelt. Und Du denkst dir nur so: „BEOBACHTEN WIE SICH DIE SITUATION ENTWICKELT? Ich soll jetzt abwarten bis meine schlimmsten Befürchtungen eintreten und zwischenzeitlich was tun? DÄUMCHEN DREHEN??“ Verdammt, wo ist Doctor House wenn man ihn mal braucht?
Nun stehst Du da, Anfang 20, die Ausbildung erst vor kurzem abgeschlossen, bereit die Welt zu entdecken und dann: Plötzlich Ungewissheit, du hast keine Ahnung was morgen oder nächste Woche sein wird. Aber du sollst „abwarten“ hat dein Neurologe gemeint!
Die Ungewissheit. Sie ist eigentlich das, was wirklich schlimm ist an dieser Krankheit. Viele Krankheiten haben einen vorhersehbaren Verlauf, wodurch man sich allenfalls auf die Situation einstellen kann. Nicht so MS, der nächste Schub könnte ein Hammer sein. Er könnte (für dich) weltverändernd sein, dich in einen Rollstuhl oder ans Bett fesseln. Und Du weisst nie wann es passiert. Man lebt in „borrowed time“ in „geborgter Zeit“. Das zumindest dachte ich damals.
Zu der Zeit hatte ich noch nicht sehr viel Ahnung was die Diagnose (resp. der Verdacht) MS überhaupt bedeutet. Also versuchte ich mich im Internet schlau zu machen. Daher nachfolgend rasch abstrahiert, wie sich MS manifestiert:
Im ersten Teil habe ich das Krankheitsbild bereits kurz angesprochen: Die eigenen Abwehrzellen beginnen die Nervenhüllen anzugreifen, was wiederum zu Beeinträchtigungen vielerlei Art führen kann (aber nicht muss). Kommt es zu einer solchen Beeinträchtigung, wie z.b. Sehnerventzündung, Doppelbilder, Gefühlsstörungen um ein paar Beispiele zu nennen, dann spricht man von einem Schub.
Man unterscheidet bei Multipler Sklerose zwischen 3 möglichen Verlaufsformen:
- die schubförmige MS
Bei rund 85% der MS Patienten beginnt die Krankheit in dieser Art. Die Beschwerden bilden sich wieder zurück, manchmal jedoch bleiben sie auch bestehen. Zwischen den Schüben verschlechtert sich der Gesundheitszustand des Patienten nicht. Bei ungefähr der Hälfte der MS Patienten bleibt die Krankheit ein Leben lang schubförmig.
- die primär progrediente MS
Bei ungefähr 10-15% der Patienten verläuft die Krankheit jedoch chronisch. Das heisst, dass sich der Gesundheitszustand langsam aber stetig verschlechtert. Jedoch kann die Verschlechterung dazwischen auch stillstehen.
- Sekundär chronisch-progrediente MS
Diese Verlaufsform geht aus der schubförmigen MS hervor. Dabei nimmt die Schub-Häufigkeit zwar ab, jedoch verschlechtert sich der Gesundheitszustand ähnlich wie bei der primär progredienten MS kontinuierlich. Rund 40% der Patienten mit schubförmiger MS entwickeln sich nach ca. 10 Jahren in das sekundär progrediente Krankheitsbild, wobei der Prozentsatz aufgrund der verbesserten Therapien langsam abnimmt.
Die Behandlung eines Schubs:
Das Standardvorgehen bei einem akuten Schub ist die Kortisontherapie. Dabei werden innert wenigen Tagen hohe Dosen Kortison intravenös verabreicht. (je 1g Kortison an 3 Tagen oder je 0.5g Kortison während 5 Tagen) Glaubt mir, so eine Kur ist kein Spass... Du bekommst von deinem Arzt noch einen ganzen Wust an weiteren Medikamenten: Schlafmittel, da Kortison stark aufputschend wirkt, zumindest zu Beginn der Therapie sowie Protonenpumpenhemmer, um den Magen einigermassen unter Kontrolle zu halten. Der Verlauf dieser „Kur“ ist dabei immer etwa gleich: In den ersten Tag ist man ziemlich aufgepeitscht durch das Kortison, rastlos, ruhelos. Dann beginnen die Schmerzen: Das Kortison scheint sich in den Gelenken und Knochen abzulagern, jede Bewegung, besonders wenn ruckartig ausgeführt, schmerzt höllisch. Du kannst dich dann in der Folge auf nichts mehr konzentrieren, denn es fehlt dir ja zusätzlich auch noch Schlaf. Und nach den 3 resp. 5 Tagen war das ja auch noch nicht vorbei. Das Kortison musste noch über 2 Wochen hinweg ausgeschlichen werden, was dich also für rund 3 Wochen ausgeknockt hat…
Eine Garantie, dass es der Person nach 3 Wochen schon wieder viel besser geht und die Symptome signifikant zurückgegangen sind, gibt es nicht. Meistens dauert es Monate bis der Schub komplett abgeklungen ist, wenn überhaupt. Oftmals bleiben Symptome bestehen, wenn auch nicht ganz so gravierend.
Ich stand immer noch ganz am Anfang meiner Diagnose. Mein Neurologe wollte erst abwarten, wie sich die Situation entwickelt, konnte aber auch keinen ungefähren Zeithorizont nennen. Das hat mich zu der Zeit sehr stark verunsichert. Aufgrund der Berichte welche ich gelesen hatte, war ich der festen Überzeugung, dass mein Leben vorbei sei. Oder so gut wie vorbei. Zeit also, zu leben. Die persönliche Bucket-List abzuhaken. Ich war jung, ein Kind der 90er und der damit verbundenen Generation „Techno.“
Also hab ich gelebt: Ohne Rücksicht auf Verluste. Ich habe alles ausprobiert, was Gott (und das BtmG) verboten hat. Jedoch (heute sage ich: „zum Glück“) immer ohne gravierendere Konsequenzen. Auch wenn ich nicht stolz auf diese Zeit bin, missen möchte ich sie auch nicht. Die Erfahrungen die ich daraus gezogen habe, waren äusserst wertvoll.
Im nächsten Teil werde ich auf die Therapien eingehen, und versuchen aufzuarbeiten, was bei mir das Umdenken von „Mein Leben ist vorbei“ in „es muss weitergehen“ ausgelöst hat.
Ich entschuldige mich an dieser Stelle dass ich diesen Erfahrungsbericht auf mehrere Teile splitte. Mehr als 15 Jahre mit dieser Krankheit aufzuarbeiten stellt sich auch für mich als Herausforderung dar und es fallen mir immer mehr Aspekte ein, auf die ich eingehen möchte. Dies alles in einen Text zu verbauen, würde den Rahmen eines Blogs definitiv sprengen.
Wer den ersten Teil verpasst hat, kann ihn hier nachlesen.
picture credit: www.pexels.com
Plötzlich sitzt Du da. Denkst, dein Leben ist jetzt vorbei. Es macht ja sowieso keinen Sinn mehr, denn schliesslich hast Du ja jetzt MS… Das ist zu 80% sicher. 80% ist schon verdammt viel. Zu den 100% fehlen da nur noch 20%, also ist es nur noch eine Frage der Zeit bis Du dein Leben im Rollstuhl fristest.
Das waren Gedanken, die mir mit Anfang 20 nach der Diagnose, welche ja strenggenommen keine Diagnose sondern lediglich ein Verdacht, wenn auch ein ziemlich starker, des Neurologen war, nachdem er erste Tests veranlasst hatte, fast täglich durch den Kopf gingen. (Verdammter Schachtelsatz, sorry dafür.)
Nice post
Hallo @muktichugh, willkommen auf Steemit. Wenn Du Fragen zu Steemit hast, oder Dich mit anderen deutschen „Steemians“ austauschen magst, schaue einfach mal in unserem Chat vorbei: https://steemit.chat/channel/deutsch
Es tut mir Leid für dich das du nicht an Dr. House geraten bist und dieser Btmg Joke war Göttlich. Ich finde es echt Respektabel das du diese Entscheidung einfach durchzudrehen nicht bereut hast und echt gut das du nicht dadurch nicht auch noch bleibende Schäden davon getragen hast.
Wer sagt denn, dass ich keine bleibende Schäden davongetragen habe?? :)
Hi @frank.riel ich bin gespannt wie es weitergeht aber solche Diagnosen sind natürlich auch sehr schwer zu verarbeiten. Aus diesem Loch wieder herauszufinden ist nicht einfach und Bedarf viel Zeit und einen starken Willen !
Einfach kann ja jeder... Einfach und Spass dabei, das ist die Königsdisziplin... :D
Nice post....upvoted....
@roused got you a $1.65 @minnowbooster upgoat, nice! (Image: pixabay.com)
Want a boost? Click here to read more!
An excellent post, you've given readers a chance become much more aware of what it means to receive such a diagnosis. Thank you for sharing Frank.
Thank you so much for your kind words (and your strong upvote).