Multiple Sklerose - Mein Langzeit-Erfahrungsbericht (dritter Teil)
Was ist die absolut menschlichste Reaktion, wenn Du eine Diagnose einer nicht-heilbaren Krankheit wie Multiple Sklerose erhälst, dein Arzt dir jedoch sagt, dass es für jegliche weitere Aktion noch zu früh sei und man erst einmal den weiteren Verlauf abwarten müsse? Genau: Man verdrängt die Tatsache erst mal komplett. In meinem Fall hab ich mich dem Feiern zugewandt, Wochenende für Wochenende, koste es was es wolle. In der Zeit lebte ich eigentlich ausschliesslich fürs Wochenende.
Wie für manchen meiner damaligen Feierbrüder fing meine Woche am Freitag an. Und da ja Wochenbeginn war, musste das mit einer ordentlichen Party gefeiert werden. Da spielte es keine Rolle wenn diese auch schon mal bis in den späten Sonntag (oder frühen Montag) verlängert wurde. Klar, dass der Montag in der Folge dann dem puren Überlebenskampf glich, einfach irgendwie den Tag überstehen, bis man irgendwann und total am Ende seiner Kräfte Feierabend gemacht und zuhause in einen komatösen Schlaf gefallen ist. Am Dienstag kam die Kraft zwar so langsam wieder in den Körper zurück, aber da das Wochenende noch in weiter Ferne war drückte das auch immer ordentlich auf die Stimmung. Ab Mittwoch gings mit der Stimmung jeweils steil aufwärts, denn so langsam konnte man den Silberstreif am Horizont, also das Wochende erahnen. Dabei kam es durchaus vor, dass man am Donnerstagabend schon mal die ersten Parties besucht hat, denn: Donnerstag war, nein, ist ja schliesslich der Vizefreitag.
So vergingen die Wochen und Monate. Eigentlich schöne und lustige Zeiten, wenn da nicht irgendwo im Hinterkopf diese unsäglichen zwei kleinen, aber dafür umso unheilvolleren Buchstaben herumgegeistert hätten: MS… Ich konnte sie zwar relativ gut verdrängen, was mich ja auch nicht wirklich erstaunt, wo ich doch die meisten Nummern meiner Dealer fast schon auswendig konnte.
Aber ein Sprichwort sagt: „Drogen sind ein Kredit, den Preis dafür zahlst Du später!“ Den Preis dafür, und das ist jetzt nicht mal auf die Krankheit bezogen, den habe ich noch einige Jahre bezahlt. Dadurch dass ich unbekümmert und ohne Fokus auf wichtige Dinge durchs Leben gegangen bin, stapelten sich natürlich auch erst Rechnungen, später Zahlungsbefehle. Heute würde ich vieles anders machen, damals jedoch, war mir das die meiste Zeit eigentlich ziemlich gleichgültig.
Und irgendwann, ein knappes Jahr später holten mich die beiden Buchstaben dann doch wieder ein. Eines Morgens begannen zuerst meine Hände sich total komisch anzufühlen. Kennt ihr das Gefühl, wenn euch ein Körperteil einschläft und alles zu kribbeln beginnt? Genau dieses „Ameisenlaufen“ hatte ich plötzlich in beiden Händen. Zuerst schenkte ich dem keine grössere Beachtung, dachte dass die letzte Party vielleicht etwas zu heftig ausgefallen war. Aber das Ameisenlaufen wurde nicht besser, im Gegenteil, es breitete sich aus und irgendwann „liefen mir die Ameisen“ den ganzen Arm hinunter. Also habe ich nach 3 Tagen beim Neurologen einen Termin gemacht. Nach einer eingehenden Untersuchen inklusive MRI und weiteren Schikanen konstatierte mir dieser einen erneuten MS-Schub. Damit sei seine Prognose von ursprünglich 80%-iger Sicherheit nun klinisch diagnostiziert und somit sei er 100%ig sicher dass ich an MS leide.
Das Komische daran war, dass obwohl ich dies ja eigentlich schon fast ein Jahr wusste, ich dennoch irgendwie geschockt, andererseits aber auch eine gewisse Erleichterung verspürte. Erleichterung, weil ich meinte dass die Ungewissheit jetzt endlich vorbei ist (Wie falsch ich mit dieser Denke war, sollte ich erst viel später realisieren) und weil der Neurologe vorschlug, direkt nach der erfolgten Schubtherapie (Kortiosontherapie, siehe hier) mit der Behandlung mittels Betaferon anzufangen. Klar gab ich mich damit einverstanden… nur um meine Aussage sogleich wieder zu bereuen. Diese Kur baute nämlich darauf, dass ich mir das Medikament jeden zweiten Tag selber spritze. Ich hass(t)e Spritzen! Das werde ich nicht schaffen… Niemals! Ich versuchte also, den Starttag der Therapie so gut wie es ging nach hinten zu verschieben…
Wikipedia meint zu Betaferon folgendes:
Beta-Interferon (auch: Interferon beta, IFN-β) ist ein Glykoprotein aus der Familie der Interferone. Interferone sind Botenstoffe, die natürlich im Körper vorkommen. Sie gehören zur Familie der Zytokine und wirken antiviral, antiproliferativ, antitumoral und immunmodulierend.
Interferone werden in drei Hauptgruppen eingeteilt: Alpha-Interferon, Beta-Interferon und Gamma-Interferon. Interferon beta wird physiologisch, also z. B. im menschlichen Körper von verschiedenen Zelltypen, z. B. Fibroblasten und Makrophagen, produziert und sezerniert.
Rekombinante, also biotechnologisch hergestellte, humane Beta-Interferone werden als Medikamente der ersten Wahl zur Basistherapie der schubförmigen Multiplen Sklerose (MS) eingesetzt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Beta-Interferon
Der Starttag dieser Therapie, welche auf unbestimmte Zeit angesetzt wurde, rückte unbarmherzig immer näher. Ich sollte mir selber Spritzen verabreichen? Ich konnte mich mit diesem Gedanken einfach noch nicht anfreunden. Es war im ersten Moment auch ein schwacher Trost, als ich durch meine Therapiebetreuung einen Injektomaten erhielt. Dieses Ungetüm, welches wie ein übergrosser Kuli aussah, sollte die Verabreichung erleichtern: Man konnte dort die Spritze einfach einsetzen, ihn am Oberschenkel, Bauch oder Hintern ansetzen, den Knopf drücken und schon wurde das Medikament subkutan unter die Haut gebracht. Das war an sich relativ einfach, dennoch hatte ich zu Beginn noch grosse Mühe mit der Darreichungsorm. Über die Jahre jedoch gewöhnte ich mich daran (Was mir bis heute ein Wunder erscheint) und nach einiger Zeit brauchte ich noch nicht mal mehr den Injektomaten.
Zu Beginn war ich äusserst gewissenhaft was meine Therapie betraf: Jeden zweiten Tag spritzte ich mir pflichtbewusst das Medikament. Das war gerade im ersten Monat auch gar nicht immer so einfach, da die bekannten Nebenwirkungen auftraten: Jede Nacht nach Verabreichung des Medikamentes hatte ich die übelsten Grippesymptome wie Schüttelfrost, was mich ganze Nächte wach hielt. Im ersten Monat der Therapie muss ich wie ein Zombie ausgesehen haben: Unter der Woche war ich die Nächte wach wegen meinem Medikament, am Wochenende war ich nach wie vor feiern, was einem gesunden Schlaf auch nicht gerade förderlich war.
Glücklicherweise verschwanden diese Nebenwirkungen nach etwa einem Monat, was die Medikation erträglicher machte. Sie verschwand jedoch niemals ganz: die Nebenwirkungen traten in unregelmässigen Abständen immer mal wieder auf und bescherten mir Horrornächte in denen ich schlotternd im Bett lag.
Dazu kam, dass meine Disziplin irgendwann auch stark nachliess, ich die Kontrolle verlor: „Habe ich jetzt gestern oder heute gespritzt? Ach ich machs morgen wieder.“ War meine viel und gerne genutzte Entschuldigung. Da dies ja in gewisser Weise keine direkten Auswirkungen hatte, wurde ich in Sachen Diszplin immer nachlässiger…
Was den Ausschlag für eine einschneidende Veränderung war, das spare ich mir für den nächsten Teil auf.
Die vorherigen Teile könnt ihr hier nachlesen:
Thanks for sharing Upvoted.
Oh! Das ist ja keine gute Diagnose!
Ich bewundere Deinen Mut, so offen über Deine Krankheit zu sprechen.
Ich weiß nicht viel über MS, wünsche Dir jedoch alles Gute und dass Du den Mut nicht verlierst.
klar schockt dich die Diagnose zuerst, aber das gibt sich mit der Zeit. Irgendwann habe ich realisiert dass es kein Todesurteil ist... Das hilft.
Das hilft auf jeden Fall, denke ich! Man muss sicher einige Dinge im Leben drauf einstellen und zusehen, dass man damit lebt. Es freut mich, dass Du das mit Mut und Lebensfreude angehst.
Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende! :)
😃😂👍🏻
Herzlichen dank für deine offenheit....
Grossartiger artikel !
(kann mich mit vielem indentifizieren ) nur den Kampfgeist nicht aufgeben
Alles gute , love + light
Upvoted frnd u may also upvote me frnd......
Wow, was für ein toller Artikel!
Ich glaube, deine Reaktion war sehr menschlich und viele würden vermutlich dasselbe machen, weglaufen und sich betäuben.
Aber so läuft das im Leben nicht, du wirst immer wieder eingeholt, egal wo hin du rennst.
Ich bin sehr gespannt wie deine Geschichte weiter geht, danke das du sie so offen und ehrlich mit uns teilst!!!
I appreciate you sharing. I have prostate cancer so know a little about what you have been through, also have an aunt with MS. She has worked really hard to build and manage a good life around the condition.