Auschwitz

in #auschwitz6 years ago (edited)

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Auschwitz Birkenau


Zu Beginn dieses Jahres fuhr ich mit Freunden nach Krakau, um das nahegelegene Auschwitz zu besuchen, genauer: das Konzentrationslager Auschwitz. Ich habe seitdem lange überlegt, wie ich über das dort Gesehene, Gelesene und Erfahrene berichten kann – vor allem, um dem Ort und seiner Geschichte gerecht zu werden. Mein Fazit: Ich kann es nicht. Daher schreibe ich nun einiges von dem, was ich von diesem Ort mitgenommen habe beziehungsweise was mich seitdem nicht mehr verlassen hat – ohne Anspruch daran, außerordentlich professionell zu sein. Ich versuche lediglich den nötigen Respekt walten zu lassen, was mir hoffentlich gelingt.

Dies soll kein moralischer Fingerzeig sein – der würde wenig bewegen. Versteht diesen Text als ernstes Angebot, den moralischen Kompass der Geschichte und damit auch den eigenen zu betrachten und zu prüfen.


Dieser Text ist mir eine Herzensangelegenheit, weshalb ich die Auszahlung für ihn deaktiviere. Auch das habe ich lange überlegt – ob ein Payout vielleicht doch Sinn ergibt, wenn ich die Summe im Nachhinein spende. Doch ich habe mich aus Transparenzgründen dagegen entschieden. Wer etwas für den Erhalt des Ortes spenden will, soll das natürlich gern tun. Ich werde unterhalb des Textes unaufdringlich entsprechend verlinken.


Ich war kurz zuvor noch skeptisch, ob ein mit solch furchtbarer Geschichte beladener Ort und seine Ausstellungsstücke – darunter unzählige Schuhe (natürlich auch zahlreiche Kinderschuhe), Beinprothesen, Brillengestelle, Kleidungsstücke, Inhaftierungsdokumente etc. – fortwährend restauriert, geputzt, von Säuren befreit (um Papier längerfristig vor dem Verfall zu bewahren) und für die Nachwelt erhalten werden sollten. Sollte nicht irgendwann einmal „gut sein“ mit der Leiderinnerungskultur?

Nach meinem Besuch weiß ich, dass man die Erinnerung an Auschwitz in alle Ewigkeit bewahren muss.

Und wer in seinem Leben die Möglichkeit hat, Auschwitz zu besuchen, der sollte sie wahrnehmen. Niemand kann und soll gezwungen werden, aber sich mit diesem Aspekt der Anfälligkeit und Verführbarkeit der Menschheit zu befassen, ist wertvoll, wenn auch grauenerregend.

Es wird real, wenn ihr dort seid. Vorher ist es nur bedrückende Lektüre in der Gemütlichkeit des eigenen Zuhauses.



Am 27.01. 2018 jährte sich die Befreiung des Lagers durch russische Soldaten zum 73. Mal. Mir war dies während unseres Aufenthalts zunächst nicht bewusst – ich denke, der Freund, der unsere Reise plante, hatte dies aber im Hinterkopf. Bevor die Veranstaltung und der Bühnenaufbau für die Reden zum Jahrestag der Befreiung begannen, hielten wir uns mehrere Stunden auf dem Gelände von Auschwitz I und Auschwitz II Birkenau (das primäre Vernichtungslager samt Krematorium) auf. Auschwitz III (Monowitz) bezeichnete wiederum die Fertigungsanlagen, in denen Gefangene für die Kriegsmaschinerie des Dritten Reiches arbeiteten.

Auf Aufnahmen auf den Geländen und innerhalb der Gebäude habe ich verzichtet. Zum einen aus Respekt und zweitens, um mich nicht vom Gesehenen zu entfernen oder abzulenken.
Ich besuchte Auschwitz I und II zwar mit drei Freunden, doch wanderte ich die Museumsgebäude – sie sind, was aus den alten Gefangenen- und Wehrmachtsgebäuden geworden ist, um äußerlich und größtenteils auch im Inneren unverändert an das Geschehene zu erinnern – den überwiegenden Teil der Zeit allein ab. Und dies ist auch, was ich jedem, der sich dazu entschließt, das Konzentrationslager zu besuchen, raten möchte:

Nach Möglichkeit solltet ihr Auschwitz I nicht in einer Reisegruppe betreten oder euch zumindest etwas gesondert von ihr bewegen. Es wird, und dies ist meine Meinung, schlichtweg zu laut und tumultig, wenn die mitunter ziemlich großen Gruppen in die Häuser stürmen, um vom Leiter Wesentliches zu den Geschehnissen im Lager zu erfahren. Große Besucherzahlen sind für den Erhalt des Konzentrationslagers und die Restauration der Ausstellungstücke (unter anderem Habseligkeiten der Ermordeten) sicherlich wünschenswert, doch sind vor Ort genügend Informationstafeln und Primärquellen vorhanden, um sich selbst i n R u h e und in der angemessenen Zeit und Weise mit der Geschichte dieses Ortes und mit dem Ausschnitt aus millionenfachen Einzelschicksalen zu befassen.

In kleinen Freundesgruppen solltet ihr nur mit Leuten unterwegs sein, die den Ernst des Vorhabens erkennen und sich entsprechend verhalten. Und wenn ihr die Gaskammer in Auschwitz I besucht, dann schweigt, wie es die Schilder dort erbitten. Wenn ihr dies nicht könnt, bleibt schlichtweg fern. Ich denke, jeder sollte ein Mindestmaß an Respekt in sich tragen, wenn es um Tod und Leid geht – ganz ungeachtet seiner politischen oder religiösen Überzeugungen. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind fürchtet sich davor, geliebte Menschen zu verlieren. Doch gerade dies ist an diesem Ort über Jahre hinweg millionenfach geschehen.


Meine Eindrücke fasse ich im Folgenden zusammen. Ich schreibe absichtlich im Präsens, um sie noch einmal vor meinem inneren Auge abzuspielen:


Ich habe vorher bereits eine Ahnung von menschlichen Abgründen gehabt, doch Auschwitz – und ganz ähnlich, denke ich, trifft es auf alle Lager dieser Art zu – hat auch nach über 70 Jahren eine Atmosphäre behalten, die einem kiloweise Verzweiflung auf die Schultern legt. Nicht unbedingt Schuld fühle ich hier, ich fühle die Abwesenheit von Hoffnung. Die Verzweiflung ist immer noch spürbar. Die polnische Kälte Ende Januar verstärkt den Eindruck natürlich noch zusätzlich.

Das Lager und seine Architektur wirken derart angelegt, dass sie den Menschen systematisch zu verstehen gaben, dass ihnen ihre Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Die Anordnung der Gebäude in Blöcken ermöglichte einen organisierten und überschaubaren Ablauf und verschaffte den Gefangenen freien Blick auf die Exekutionsmauer. Eine perfide Warnung.

Die Häuser berichten im Innern über den Massenmord und wie die Machtübernahmen und Deportierungen in den einzelnen Ländern abliefen und wie Völker und Ethnien sie erlebten.

Ab einem gewissen Punkt wird mir klar, dass die europäischen Juden zu dieser Zeit kaum Chancen hatten, dem Sog Auschwitz' zu entkommen. Exil und Auswanderung konnten unzählige Familien nicht vor dem Tod bewahren.
Ich blicke auf eine Karte, die das Konzentrationslager als geographisch zentrale Vernichtungsstätte offenbart. Zahlreiche Pfeile laufen auf die Stadt zu – ein gieriges schwarzes Loch.

Insgesamt starben 1,5 Millionen Menschen im Konzentrationslager Auschwitz.

Ich besuche Gebäude für Gebäude (ich denke bis heute, dass ich nicht jedes betreten habe), blicke auf alte Schlafstätten – meistens bestehend aus Decken und Stroh direkt auf dem kalten Boden – und sehe in Hunderte Gesichter. Fotos von Inhaftierten füllen dreireihig ganze Gänge von Anfang bis zum Ende. Das Gesicht eines etwa 40-jährigen Anwalts hält mich fest. Sichtlich geschwächt und von der Gefangenschaft mitgenommen, hat er einen Blick voller Gutmütigkeit bewahrt. Ich gehe den Gang entlang und sehe mir viele andere Fotos an und kehre aber immer wieder zu diesem zurück. Sein gutmütiger Gesichtsausdruck erschüttert mich unerwartet heftig.

„Know that in the most difficult moments, when death is ever-present, we try to maintain human dignity.“
– Fejga Peltel-Międzyrzecka (Vladka)

Als eine größere Gruppe den Gang betritt, trete ich heraus.

In einem anderen Gebäude sehe ich eine Waschstätte der Frauen. Über den Beckenrand hängt graue Gefangenenkleidung. Eine nahe Tafel verrät, dass sich inhaftierte Frauen hier unmittelbar vor ihrer Exekution an der Mauer ein letztes Mal waschen mussten. An Zynismus nicht zu überbietende Zeichnungen an der Wand (zwei Katzen, die sich putzen; ein Kind, das das andere spielerisch mit Wasser übergießt) preisen Reinlichkeit als Gebot der Stunde.

An einer anderen Wand steht in Fraktur:

„Verhalte dich ruhig“


Jedes der Gebäude erzählt einen anderen Aspekt des industriellen Vernichtungsapparats und des Wegs, der zu seiner Errichtung führte.

Im Belgischen Haus sind auf einer Wand 500.000 Namen aus Belgien deportierter und getöteter Juden aufgedruckt (bei der Zahl bin ich mir nicht mehr ganz sicher). Die Namen sind so klein geschrieben, dass sie vor den Augen verschwimmen und aus geringer Entfernung verzerren.

Das Shoa-Haus (die Shoa bezeichnet den Massenmord an den Juden) besuche ich einmal allein und beim zweiten Mal mit meinen Freunden. Es überwältigt, nicht nur aufgrund der schieren Masse der Opfer, die hier veranschaulicht wird. Ein gewaltiges Buch mit einem in der Breite raumfüllenden Buchrücken listet die bisher bekannten jüdischen Opfer des Holocaust. 4 Millionen Namen sind aufgeführt und alphabetisch durchblätterbar, 2 Millionen Schicksale werden noch immer ermittelt und vielleicht nie aufgeklärt.

Ein Raum mit nachgemalten Kinderzeichnungen, die im Konzentrationslager entstanden, erzählen von dem Alltag der Kinder, die sehr häufig bis zum Tod von ihren Eltern getrennt blieben. Ein Künstler hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Kinderzeichnungen originalgetreu an die Wand zu malen. Spätestens jetzt haben alle von uns Tränen in den Augen.

Videomaterial, Projektionen, Familienalben berichten von vielen einzelnen Lebensläufen, von Familien, was sie vorher taten, wie sie lebten, welche Hoffnungen sie hatten und wie sie auseinandergerissen wurden. Von SS-Offizieren verfasste Dokumente listen akribisch den Werdegang und die Beurteilung der Inhaftierten auf: „Kriminelle Vorstrafen: ang. (angeblich) keine“, „Politische Vorstrafen: ang. keine“.
Andere dokumentieren den unverfänglich wohlformulierten Sterbegrund der Gefangenen. Zwischen den Zeilen liest man die Wahrheit mit.

In den Museumsgebäuden wird auch von aufrichtigen Helfern berichtet. Viele riskierten und verloren ihr Leben. Ein niederländisches Paar schleuste und rettete zahlreiche Juden. Das Paar wurde später getrennt und umgebracht.

„We had a radio, we read things in the paper now and then, but ach, Germany. In the Netherlands things like that didn't happen. Even when the war broke out in 1940, we still believed it would all be all right.“
– Simon Pereboom, 2003

Einer der Blöcke beherbergt einen Raum mit Kinderfotografien – entstanden vermutlich, kurz nachdem die Kinder (allesamt sind sie etwa 9-15 Jahre alt) deportiert wurden. Jedes Kind ist im Dreischritt aufgenommen: seitlich, frontal, schräg seitlich. Manchmal ist eine Apparatur zu erkennen, die den Kopf von hinten in Position bringen soll. Ich kann die Angst in den Kinderaugen sehen. Ein Mädchen hat diese Sorte Tränen in den Augen, die verrät, dass es weiß, was passieren wird. Das Mädchen wollte nur leben. Andere Gesichter verraten, dass sie bereits zu viel gesehen haben und nur noch zum Funktionieren gezwungen wurden.

Es wird mir emotional immer wieder fast zu viel und mein Hals fühlt sich beengt. Aber was heißt das schon?Mir wird es zu viel?

In einem der letzten Gebäude, das wir in Auschwitz I betreten, sehe ich nun die zurückgelassenen Habseligkeiten, deren Erhaltung laut dem meine Skepsis weckenden Artikel, den ich zuvor gelesen hatte, so viel Arbeit bereitet. Gewaltige Berge von Schuhen, Ledertaschen und von Prothesen – vermutlich von jenen, die noch während des Ersten Weltkriegs gedient hatten. Ein Knäuel aus Brillengestellen wurde nie entheddert.


Zum Lager Auschwitz Birkenau fuhren wir im Anschluss. Zu diesem abgelegenen und von sehr wenig umgebenen Ort sage ich nur Folgendes: Wer dort über die Schienen – oder auch 3 Kilometer zu Fuß getrieben – ankam, wusste, dass es sein Ende war.


Ich glaube mittlerweile, dass wir es uns zu bequem machen, wenn wir uns vor dem Dunkelsten im Menschen verschließen. Wenn wir es nicht zu uns dringen lassen, dass sich Menschen im Umgang mit anderen selbst zur Bestie machen. Mindestens einmal im Leben sollten wir als Nicht-Betroffene zumindest ansatzweise nachvollziehen, was es genau heißt, wenn ein Mensch einem anderen Menschen seine Würde und sein Leben aberkennt.

„It happened, therefore it can happen again: this is the core of what we have to say“
– Primo Levi



Bild: alanbatt auf Pixabay

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