Die Foto-Synthese
Die Foto-Synthese
Tytta und Frizz. Übertrieben wie immer. Das Foto entstand drei Tage vor ihrer Scheidung. Ich weiß das so genau, weil ich dabei war. Mein eigener Name tut hier aber nichts zur Sache, es geht ja um Tytta und Frizz. So heißen sie natürlich nicht in Wirklichkeit, sondern nur in ihren Schein-Welten, es sind die Nick-Names ihrer Accounts, unter denen sie in verschiedenen Netzwerken Artikel verfassen und veröffentlichen, in denen eine Existenz der Harmonie vorgetäuscht wird.
Von ihrer Scheidung sollte niemand erfahren, sie stellten ja ein Traumpaar dar, und das im doppelten Sinne des Wortes: traumhaft und erträumt. Vorbildlich, aber leider von vorne bis hinten erdichtet und erlogen. Aber hiermit genug von meiner Seite, mich geht das ja eigentlich gar nichts an. Ich bin nur auf das Bild gestoßen und erinnere mich, wie es zustande kam, drei Tage vor ihrer Scheidung.
Natürlich sehen Tytta und Frizz in Wirklichkeit auch nicht so Model-artig aus wie hier auf dem Foto. Ein bisschen Ähnlichkeit ist aber schon da, das muss ich zugeben. Obwohl im wirklichen Leben Frizz die Brille trägt, nicht Tytta. Aber der Fotograf schlug vor – ich weiß das, denn ich war dabei –, die Brille zu tauschen. Und das gefiel den beiden sehr, es war ja ein weiterer Schritt hinein in die Welt der alternativen Realität.
Wir saßen gemeinsam im Studio oder vielleicht besser Labor dieses Fotografen, und der Herr Oberkünstler stellte seine Rezepte der Erzeugung von ‚erweiterten Blicken auf den Alltag‘ vor, wie er es nannte. Er hatte uns in ein Rondell aus mehrere Bildschirmen platziert, die in einem Dreiviertelkreis vor uns aufgebaut waren, große Dinger, fünf an der Zahl, damit Tytta und Frizz im Vergleich der Möglichkeiten hin und her schauen und aussuchen konnten.
Der Herr Oberkünstler präsentierte den ‚Raum der möglichen Wahrheiten‘, so sagte er tatsächlich, und redete und zeigte in einem fort. Es ging um Szenen, Hintergründe, Botschaften, Emotionen, es ging um die Erschaffung von Welten und von Geschichten, um Identitätsstiftung und um soziale Verbindlichkeiten. Es ging um die Pflicht zu zeigen, wer man im Innersten wirklich ist. Oberkünstler nannte es ‚das Outcoming der Herzen‘, und mir wurde allmählich schlecht. Aber es geht hier ja nicht um mich, daran muss ich mich immer wieder erinnern.
Auf den Präsentationsbildschirmen sahen wir Szenen mit Skateboards unter Wasser (O-Ton Oberkünstler: „Das ist das Fluidum, von dem wir alle leben“) und von übermannsgroßen Seifenblasen unter merkwürdig aussehenden Wolken. Oberkünstler: „Aber wir können diese Blasen auch durch die Long Boards ersetzen und über eine Konfiguration aus umgedrehten Mammatus-Wolken gleiten lassen; wenn ihr dann darauf liegt wie auf Bob-Schlitten, ergibt das einen super Effekt.“ Tytta und Frizz schauten weiter und weiter.
Schließlich und endlich begannen sie wieder einmal zu streiten, war ja klar. Sie schrien einander nicht an, oh nein, das ging viel subtiler. Es kam zu Bemerkungen in Nebensätzen („...weil du ja immer am liebsten auf dem Sofa liegst“ oder „… wie neulich wieder“ oder „… und das kennen wir ja schon“, „… aber macht nichts, jeder hat halt so seine Grenzen“ und lauter solches Zeug) und zu hochmütig-abschätzenden Blicken zwischen den beiden, und wahrscheinlich ist es außer mir gar niemand aufgefallen, dass sie unter der hübsch vorgegaukelten Fassade gemein und bissig sind.
Nach nur einer Stunde mit Bildern von ineinander verschlungenen Saturn-Ringen in Form von Möbius-Bändern („Nietzsches Ewige Wiederkehr“, hörte ich Oberkünstler dazu anmerken, aber ich hoffe, ich habe mich verhört), von Oktopussen, die sich zu einem Peace-Zeichen angeordnet hatten (O-Ton O-Künstler: „Die Acht ist die Vereinigung aller Unendlichkeiten“) und von fliegenden Bergen, die wie Broccoli-Rosen über einem Ozean schwebten, aber bewohnt schienen, denn es befanden sich augenscheinlich Dörfer darauf („Der Traum der Siedler von Catan“, sagte diesmal nicht Oberkünstler, sondern Tytta), also nach nur einer Stunde mit vielen ungewöhnlichen bis unausstehlichen Symbolismen und Sprüchen, fragte Frizz wie aus heiterem Himmel: „Wie wäre es denn mit Bungee-Springen, so Arm in Arm als Pärchen? Geht nicht so was? Das verstehen unsere Follower besser.“
Fotograf Oberkünstler ging sofort darauf ein. „Following the fellows!“ Damit sprang er auf und lud uns mit einer Geste ein in einen Nachbarraum. Dort legte der überraschte Assistent schnell sein Smartphone aus der Hand, ließ sich die Aufgabenstellung erläutern und hatte im Nu etwas zusammen skizziert auf einem Blatt Papier. Ich staunte. Über die Skills, und über Old School. Dann telefonierte er ein bisschen, es kam eine Fahrrad-Botin und brachte drei oder vier Bungee-Ausrüstungen von wer-weiß-woher. Kurze Anprobe. Oberkünstlers Assistent (braucht noch einen Namen, oder vielleicht auch nicht) hievte eine Schwebe-Kamera über Tytta und Frizz, probierte verschiedene Winkel und verschiedene Grade der Umarmung aus, leitete sie zu albernen Sprüngen und Grimassen („authentische Haltungen und Gesichtsausdrücke“) an, ließ Tytta und Frizz die Brille tauschen - - und voilà! Das Foto!
Ein Hintergrund mit einer Froschaugen-Perspektive einer hübschen Landschaft („Rund ist die Welt“) war schnell gefunden und innerhalb weniger Klicks hinter die beiden geschoben. Fertig! Mir schien, sogar Oberkünstler war beeindruckt. Die beiden Sozial-Darwinisten fanden schnell einen Titel für das Machwerk („Survival of the Fittest“) und ließen es sich was kosten. Noch am selben Tag, also drei Tage vor ihrer Scheidung, ging es online. Die Follower waren begeistert.
Nur der Assistent von Oberkünstler – wie hieß er doch gleich? – schien nachdenklich zu werden, als er zufällig eine Woche später auf X-Book oder bei Instabilograph las: „Wir rocken zusammen – Sprung über den Horizont“, während seine Großeltern sich gerade hatten scheiden lassen. Das erzählte er mir in meiner Praxis, denn ich bin ein gescheiterter Therapeut, aber das tut nichts zur Sache.
Als ich ihn fragte, weshalb Frizz an seiner rechts im Bild befindlichen linken Hand sechs statt fünf Finger habe, verließ er fluchtartig meine Geschichte, und da fiel mir auch endlich auf, weshalb ich mir seinen Namen nicht hatte merken können: er nannte sich immer anders. Manchmal sollte ich ihn mit Friedrich ansprechen, dann wiederum mit David, und ab und zu auch mit Kasper.
Köstlich! Großer Lesespaß von Anfang bis Ende. Mehr gibt es da nicht zu sagen. Oder doch?
Tytta und Frizz gibt es wirklich. Massenweise. Sozialdarwinisten, die aber trotzdem nicht überleben nur weil sie den Tod leugnen, bis er schließlich da ist. Du hast sie hervorragend aufgespießt. Trotz gescheitertem Therapeuten. Auch Oberkünstler und Assistent – einfach gut aus dem Leben gegriffen und fein überspitzt bis hin zum „Ätschi-Bätschi“ mit den sechs Fingern. Habe ich tatsächlich nicht gesehen. Weil Menschen 5 Finger haben, hat mein Hirn den 6. unterschlagen. Endlich mal wieder Zucker in deutsch-Unplugged.
Ist nicht leicht die modernen trainierten Hände , höhö , auszutricksen .