Eine freie Gesellschaft braucht ein Fundament. Teil 40 (Wahlablauf bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl; Rangfolge der „Güte“)
Wahlablauf bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl
Will die Freie Gesellschaft (oder Teile von ihr) eine zu ihr passende Gruppenstruktur, dann muss sie ein anderes Wahlmodell nutzen als das heute übliche. Um in dieser Angelegenheit weiter zu kommen, war ein neues Wahlmodell zu entwickeln: die von mir sogenannte kandidatenfreie Persönlichkeitswahl. Eigentlich ist der Bauplan der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl gar nicht so neu. Das beweisen die seit ewigen Zeiten existenten Entscheidungsstrukturen am Markt. So musste dieser Plan nicht eigens erfunden, er konnte bei den alltäglich ablaufenden Auswahlprozessen des Marktes gefunden werden.
Die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl ist das Herzstück der Gruppenstruktur der Antimonopole. Zweck der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl ist, Machtpositionen demokratisch und zugleich professionell zu besetzen. Aus ihr entsteht eine durchweg naturwüchsige, weil auf einzelne Bedürfnisbereiche der Wähler bezogene politische Macht. Die Rechtsprinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit kommen besser zur Geltung als bei den üblichen Wahlprozeduren.
Die Analyse der marktinternen Auswahlmechanismen (s. Teil 39 #freie-gesellschaft), die als Vorlage für das jetzt darzustellende Wahlmodell dienen, offenbart einige plebiszitäre Elemente. Die konnten nutzbringend in das Modell eingebracht werden.
Um eine grobe Vorstellung von der jetzt darzustellenden kandidatenfreien Wahl zu vermitteln, lassen wir die fiktiven Wähler ohne vorherbestimmten Termin einfach drauflos wählen. Die Wahl sei so ungezwungen wie die Auswahlprozesse auf dem Markt. Warum soll das im Falle einer Personenauswahl in einem Chaos enden? Auf dem Markt endet es ja auch nicht damit.
Jedes Mitglied einer Wählergruppe kann wählen (Allgemeinheit der Wahl). Es wird, wenn es überhaupt wählen will, diejenigen auswählen, die ihm durch unmittelbar miterlebendes Beobachten und Beurteilen am genehmsten sind. Die Wahl kann ohne vorbestimmte Wahlkandidaten und ohne festgelegten Wahltermin stattfinden (Freiheit der Wahl). Bei seiner Entscheidung hat ein Wähler die gleiche Stimmgewalt wie alle anderen, nämlich nur eine Stimme (Gleichheit der Wahl).
Die Chance einer Organisationsstabilität ist dort am größten, wo jeder selber bestimmt, wen er über sich dulden will, wo also die drei Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit optimal im Wahlvorgang verankert sind.
Die Wahlberechtigung ist an die Mündigkeit der Wähler geknüpft, das heißt im vorliegenden Fall: an die Fähigkeit, in eigenem Namen mit Tauschpartnern Verträge abzuschließen. Nur dann gehören sie einem Antimonopol an. Und nur in den Antimonopolen wird politisch gewählt. Das Problem der politischen Mündigkeit, die die Wahlberechtigung beinhaltet, beantwortet sich hier quasi von selbst. Von dem Augenblick an, in dem die Heranwachsenden in die für ihre Existenz notwendigen Leistungs-Gegenleistungs-Beziehungen mit den Monopolbetrieben (auf der Basis von Tauschverträgen) eintreten, sind sie wahlberechtigt. Aus souveränem Tauschumgang erwächst Mündigkeit auf politischem Gebiet, mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. In der Freien Gesellschaft ist die Kontraktfähigkeit am Markt die Eintrittskarte ins politische Leben.
Damit ist ein empfindliches Problem gelöst: Es können bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl Leistungsträger niemals durch Nichtleistungsträger (s. Hierzu gibt es am Schluss der Serie #freie-gesellschaft noch einen Anhang) überstimmt werden. Dieses Problem hat bereits John Stuart Mill 1858 in seinen Considerations (Nachdruck o. J.) angesprochen: Ob Leute an einer politischen Wahl teilnehmen dürfen, die für die Güter, die sie erhalten, keine Gegenleistung erbringen. Mill macht auf die Gefahr aufmerksam, die daraus erwächst, dass solche Leute aufgrund der Mehrheit, die sie zweifellos eines Tages in einer auf der Basis eines Mehrheitswahlrechts organisierten Gesellschaft haben werden, die öffentliche Mittelverwendung zu ihren Gunsten regulieren können, dass sie also, mit Mills Worten, „für jeden Grund ihre Hände in die Taschen anderer Leute…stecken, der aus ihrer Sicht geeignet ist, als ‚öffentlich’ bezeichnet zu werden“.
Bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl haben es die Wähler selbst in der Hand, diejenigen, die sie wählen wollen, lebensnah kennen zu lernen. Die Frauen- und Männerpersönlichkeiten ihrer nächsten Umgebung sind ihnen besonders vertraut. Alles, was sie tun und lassen, können sie direkt wahrnehmen und beobachten. Damit ist die Unmittelbarkeit der Wahl gesichert. Auf diese Weise entscheiden die meisten Wähler auf einer sehr niederen Stufe, aber in einem Bereich, den sie erfahrungsmäßig voll überblicken: Votationsluzidität.
Die Wähler können also wirklich auswählen, und zwar im Sinne des Heraussuchens des (subjektiv empfundenen) Besten. Kann bei einem derart wilden Wahlablauf, ohne fest aufgestellte Kandidaten, eine vernünftige Rangordnung der Güte überhaupt entstehen? - Ja, und zwar wegen der Möglichkeit der Stimmweitergabe (Votationstransfer). Wie ist das zu verstehen?
Bei dem einen oder anderen Gewählten werden sich Stimmen sammeln (Votationskumulation). Zusammen mit seiner eigenen Wahlstimme gibt er die bei ihm gesammelten Stimmen weiter an seinen Auserwählten, d. h. an eine Person, die seiner Auffassung nach für die wahrzunehmende Aufgabe besser geeignet ist als er selbst. Die von ihm gewählte Person gibt die Stimmen einschließlich ihrer eigenen nach gleichem Schema ebenfalls weiter und so fort. Dabei sind die Mitglieder der Gruppe Wählende und Zu-Wählende gleichermaßen. Diese Doppelrolle hat jeder solange inne, bis er den Wahlvorgang durch Nichtwahl abbricht.
Beim Votationstransfer kann es „Schleifen“ geben, derart, dass ein Gewählter sich selbst oder einen seiner Wähler wählt. Das wirkt sich so aus, dass er im ersten Fall eine Stimme mehr hat. Im zweiten Fall vermehrt sich die Summe der Stimmen seines Gewählten um die an diesen selbst übertragenen Stimmen, und zwar um die, die der bis dahin noch nicht hatte.
Richtig ungebunden und frei wird der Wahlakt erst, wenn man auf festgelegte Wahltermine verzichtet und das Wählen permanent zulässt. Durch diese Votationspermanenz wird verhindert, dass eine Gewähltenrangfolge ungebührlich lange überlebt. Der Wähler kann seine Stimme jederzeit zurückziehen und jederzeit einen anderen damit begünstigen.
Wegen der Permanenz der Wahl hat die Organisationsstruktur der Wählergruppe ein großes Veränderungspotential. Das kann im Extremfall zu ständigem Strukturwandel im Machtgefüge der Gruppe führen. Mit dieser „Gefahr“ muss die radikale Wahlfreiheit leben. Denn nur durch sie ist die eigentliche Gefahr zu heben, nämlich das Überdauern obsoleter Machtstrukturen. Die Permanenz der Wahl sichert die Souveränität der Wählenden in bisher ungekannter Weise. Sie behalten jederzeit ihre ursprüngliche, d. h. dem Naturrecht geschuldete individuelle Macht. Die von ihnen errichtete Repräsentantenstruktur kann sich weder verstetigen noch verselbständigen.
Die Permanenz der Wahl wirkt sich beim kandidatenfreien Wahlsystem nicht so destabilisierend aus wie bei anderen Wahlsystemen. Die Stimmenverteilung ist hier zwar prinzipiell labil. Das soll sie auch sein. Aber die Labilität relativiert sich in dem Maße, in dem sich auf der Stufe der Basisentscheidungen stabile Verhältnisse einpegeln. Ich kann nicht heute jemanden für ein Amt geeignet finden und morgen schon wieder einen anderen. Ein durch ständiges Veränderungsbedürfnis motivierter Wechsel der Entscheidung ist aufgrund vorliegender Erfahrungen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht zu erwarten. Zu erwarten ist eine relativ stabile Gruppenstruktur, die sich über längere Zeiträume hin durchhält und dies trotz Votationspermanenz.
Die Katastrophenargumentation gegen die Votationspermanenz spricht gern vom drohenden „Kontinuitätsverlust der Politik“. Offensichtlich nivelliert sie den wesentlichen Unterschied zwischen freien politischen Instanzen und solchen Einrichtungen, etwa Wirtschaftsbetrieben, die an langfristige Tauschkontrakte gebunden sind.
Natürlich muss sich auch eine Monopolökonomie langfristig planend festlegen. Sie muss diese Langfristigkeit kontinuierlich durchhalten. Aber ein heute erkannter Fehler bei den Repräsentanten der Antimonopole wird im Interesse aller durch sie Vertretenen sofort beseitigt und durch Besseres ersetzt werden müssen. Die „Kontinuität der Politik“ sollte der wählende Souverän selber bestimmen. Das kann er auch, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (in Teil 41 mehr darüber).
Eine Beleidigung der freiheitlichen Denkungsart wäre es, wenn ein in eine verantwortliche politische Entscheidungsfunktion Gewählter als Versager oder gar als Rechtsbrecher über die Gebühr lange im Amt bliebe. Der Vorteil des hier vorgestellten Wahlsystems liegt ja gerade darin, dass die Macht je nach Bedarf reibungslos neu übertragen werden kann. Nichtgenehme Machtkonstellationen können schnell beseitigt werden.
Die infolge der Votationspermanenz nicht vorausberechenbare, sich unter Umständen in rascher Abfolge verändernde Gruppenstruktur der Antimonopole erfordert Auswertungstechniken, über die man erst seit jüngster Zeit verfügt. Eine wirkliche Freiheit des Wählens in Massengesellschaften, die aufgrund der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl nun möglich ist, konnte mangels passender Auswertungstechnik in früheren Zeiten nicht geboten werden. Mit Hilfe geeigneter EDV-Programme und vor allem der Blockchain Technologie kann man jetzt jede noch so geringe Änderung im Machtgefüge einer Gruppe zeitnah registrieren und sofort die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.
Von erheblicher Bedeutung für das hier entwickelte Personenauswahlsystem ist die Votationsaszens, d. h. der aufsteigende Entscheidungsverlauf mit der Nachrangigkeit der oberen Entscheidungen. Dieses Merkmal, zusammengenommen mit den vorher genannten, gestattet, dass im Extremfall ein einzelner Wähler über Nacht durch seinen einsamen Entschluss die Rangordnung der Gewählten bis in die oberste Spitze hinein verändern kann. Welche Machtfülle mit einer einzigen Stimme, aber welche Verantwortung auch!
Mit soviel Macht und Verantwortung ausgestattet, bekommen die Wähler ein ganz anderes Verhältnis zur Wahl, als das heute möglich ist. Sie spüren die Macht, die sie mit ihrer Stimme haben, geradezu sinnlich. Sie fühlen sich für voll genommen und bilden ein unmittelbares emotionales Verhältnis zum Wahlvorgang aus. Viel engagierter als sonst denken sie über ihre Wahlentscheidungen nach. Viel kritischer prüfen sie die Sinnesart ihrer Mitwelt auf Wählbarkeit hin.
Mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse bei Wahlen bemerkt Robert Nef: „Jeder freiheitlich denkende und fühlende Mensch sollte …die Frage, wer ihn…wie und inwiefern politisch adäquat repräsentieren könne, viel ernster nehmen“ (2012).
Das Wählen bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl ist in der Tat ernsthafter als bei bisherigen Wahlmodellen. Und es macht mehr Spaß, was kein Widerspruch ist. Daraus erhellt, was für eine interessante Veranstaltung eine Persönlichkeitswahl sein kann. Die üblichen Wahlordnungen degradieren die für die meisten einzige Möglichkeit, ihr Recht auf Mitwirkung bei der Machtverteilung innerhalb ihrer Gruppe geltend zu machen, zum rituellen Brimborium.
Bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl entfällt auch die Wahlkreisgeometrie. Die Wähler können irgendwo in der Welt wohnen. Sie müssen nur Vertragspartner eines antimonopolistisch zu bändigenden Monopols sein.
Am Ende der Wahl-Prozedur steht eine Gruppenstruktur, in der alle Gewählten eine Position innehaben. In dieser Struktur ist die Stimmenverteilung abgebildet. Die stellt eine Rangfolge der Gewählten nach Stimmenanzahl dar. So ist vom ersten Tage an, zu dem die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl praktiziert wird, eine Rangordnung der Güte innerhalb der Wählergruppe vorhanden: Welche Gewählten haben darin Spitzenpositionen und welche haben untergeordnete Positionen inne? Und im Falle einer Stimmengleichheit an der Spitze: Wann ist eine Entscheidung durch Los erforderlich? Diese Fragen sind jederzeit sofort zu beantworten.
Die Rangordnung kann kurzfristigen Veränderungen unterworfen sein. Zu erwarten ist aber, dass sich ihr Status über längere Zeiträume durchhält.
Zur Wahlfreiheit gehört auch die Geheimhaltung der Stimmabgabe. Erst sie sichert die Freiheit der Wahl wirklich. Der Wähler muss für den Zu-Wählenden anonym bleiben, nicht aber der Zu-Wählende für den Wähler. Das haben die Wahltheoretiker schon früh erkannt. Warum soll eine freie Wahl so organisiert sein, dass ein Gewählter nie weiß, wer ihn gewählt hat? - Weil er dann auch nicht weiß, wer ihn nicht gewählt hat! Seine Nichtwähler zu kennen, könnte für den Gewählten eine Versuchung sein.
Das Eigentümliche an der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl ist das Offenliegen aller Optionen durch Ausschluss jeder Form von Anonymität (Votationsluzidität). Es gibt bislang keinen öffentlich anerkannten Vorschlag, das Anonymitätsproblem bei politischen Wahlen in Großgesellschaften zu lösen. Im Gegenteil: die Historie hat eine politische Kultur begünstigt, die die Anonymität der zu Wählenden systemisch verfestigte und damit zum Normalzustand werden ließ (s. Teil 36 #freie-gesellschaft).
Die Wahl auf die oberen Plätze der Rangordnung erfolgt bei einer kandidatenfreien Persönlichkeitswahl vorwiegend über Mittelsmänner. Das ist kein Nachteil, sondern ein echter Vorteil. Die im Zusammenhang mit Wahlen gewöhnlich aufgestellte Norm der Unmittelbarkeit erhält erst hier ihren vollen Sinn: Jeder kann den wählen, den er unmittelbar kennt, und nicht den, über den er über Medienleute und Wahlkampfmanager, also über die Meinungsmacher der Öffentlichkeit, unterrichtet ist. Der eigentliche Schaden für eine große Wählergruppe erwächst nicht aus der indirekten Wahl, sondern aus der indirekten Bekanntschaft der zu Wählenden.
Wegen der Votationspermanenz ist die Wahl nicht auf bestimmte Wahlperioden festgelegt. Die Wahlvorbereitung als Wahl-„Kampf“ wird sinnlos. Die Wahlvorbereitung als Persönlichkeitsbildung wird sinnvoll. Aufgrund dessen arten Wahlen nicht zu periodisch angesetzten und kostenintensiven Superspektakeln aus. Die dabei gewöhnlich unternommenen Verdummungsversuche, beispielsweise in Form plakativer Werbefeldzüge, haben keine Chance. Die Wahlentscheidungen beruhen auf unmittelbarem persönlichem Vertrauen. Eine dadurch entstehende Rangfolge der Güte zieht sich mitten durch die Gesellschaft. Sie entsteht in aller Stille und nahezu wie von selbst.
Wie in allen Machtgefügen liegt auch in der Demokratie die Machtausübung in der Hand weniger Gewählter. Können die trotz aller Vorkehrungen und Vorsichten nicht alles vorher Schwarze in Weiß und alles vorher Weiße in Schwarz verwandeln? Das können sie bei einer kandidatenfreien Persönlichkeitswahl nur dann, wenn es die Wähler wollen! Ein Machthaber müsste zuvor die ganze durch die Wahl geschaffene Rangstruktur bis hin zu den Wählern an der Basis vernichten, um auf unerwünschte Weise Herrschaft ausüben zu können.
Die regulative Vorgabe eines Wahlaktes sollte so sein, dass auch ein Unhold an die Spitze der Macht gelangen kann, ohne dass seine Wähler Grund zur Klage hätten. Wenn sich Letzteres bei einer wahrhaft freien Wahl wirklich ereignete, geschähe es den Wählern recht. Wenn hingegen eine Gesellschaft ein wirklich freies Wählen gar nicht kennt, darf man ihr nicht vorhalten, dass sie die Gewählten hat, die sie verdient.
Die aus der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl hervorgehenden Repräsentanten bilden die Verbandsspitzen der Antimonopole. Als Damm gegen monopolistischen Wucher, also gegen Übervorteilungssucht und Ausbeutung, hat die Freie Gesellschaft demokratisch gewählte Ombudsleute. Als Damm gegen juridische Willkür hat sie demokratisch gewählte Juroren. Bei den Gerichten treffen die Funktionsbereiche beider Repräsentantengruppen zusammen. Besonders hier wird man die Macht der Repräsentanten, also der Juroren und der Ombudsleute, streng getrennt halten müssen. Diese Trennung wird durch separate Wahlgänge bewirkt. Aber nicht nur hier, sondern für jeden einzelnen monopolistischen Leistungsbereich gibt es ein eigenes Wahlverfahren.
Jedes Mitglied des dem Monopol korrespondierenden Antimonopols ist also in mehrfacher Hinsicht Wähler. Das bedeutet, dass mit der Machterteilung zugleich eine Machtverteilung gegeben ist, denn jede Repräsentanz eines Antimonopols ist von jeder eines anderen getrennt. Dadurch ist neben der in Teil 32 #freie-gesellschaft erörterten Machtaufteilung bei den Monopolen noch eine weitere bewirkt, die Machtaufteilung zwischen den Antimonopolen. Der Separation in getrennte monopolistische Tätigkeitsbereiche entspricht eine Separation des monopolistischen Kontrollwesens. So ist nicht nur die Konzernstruktur beim Monopolismus, sondern auch die Syndikatsstruktur beim Antimonopolismus ausgeschlossen.
Die Separation bei der Wahl ist nicht von einem bestimmten Wahlmodus abhängig. Deshalb ist sie auch kein Spezifikum des hier vorgestellten Modells. Wegen ihrer Tragweite für eine vernünftige politische Machtaufteilung verdient sie aber, an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt zu werden. In der Vergangenheit hat vor allem Gustav Herbert Horn, ehemals Direktor eines Statistischen Landesamtes in Deutschland, in seinen Schriften auf das Erfordernis einer Separation bei der Wahl, einer „Wählerspezialisierung“ (G.H.H.) aufmerksam gemacht (1980), allerdings ohne die derzeit übliche Form der Wahl, die kandidatengebundene Listenwahl, in Frage zu stellen.
Für die Entmachtung des Monopolismus ist die personelle Trennung bei den für diese Entmachtung zuständigen Repräsentanzen wichtiger als die Trennung bei den Monopolbetrieben selbst. Jedes Monopol muss eine eigenständige Ombudschaft haben. Diese Form der Machtaufteilung ist unabdingbar für den Schutz des „Königs Kunde“ gegen Fehlstellungen im monopolistischen Anbieterbereich. Sie ermöglicht eine effektive, weil fachspezifisch qualifizierte Machtausübung gegenüber den Monopolen. Das unterscheidet die politische Repräsentanz in der Freien Gesellschaft wesentlich von der politischen Repräsentanz in Staatsgesellschaften.
Soweit der Wahlakt der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl. Ich wage nicht zu behaupten, dass das von mir vorgeschlagene Wahlmodell die für alle Zeiten gültige Lösung des Problems der Machtdelegation und der Qualitätsauswahl bei Wählergruppen ist. Auch steht nicht einmal fest, ob in einer Gesellschaft alles besser wird durch eine Innovation auf dem Wahlsektor. Eines ist nun jedenfalls gezeigt: Die basisdemokratische Entscheidungs- und Abstimmungsstruktur eines Gütermarkts lässt sich auf andere demokratisch beabsichtigte Organisationsgebilde übertragen, z. B. auf die Organisation von Personenvereinigungen. Damit ist die Auswahl der Tauschgüter, die die Herrschaft des „Königs Kunde“ innerhalb der Wettbewerbswirtschaft sichert, durch die Auswahl von Repräsentanten ersetzbar, die das Preis-Leistungs-Verhältnis bei den Gütern beurteilen und beeinflussen. Die Form der freien Leistungs- und Produktauswahl, die in einer entwickelten Wettbewerbswirtschaft das Banner der Demokratie bis in die letzte Hütte trägt, hätte ihr Pendant in der Form der Auswahl von Personen, die das Interesse anderer Personen vertreten.
Es stellt sich jetzt die Frage: Wie sieht eine einschlägige Wahlordnung aus? Nach den Erörterungen in diesem Abschnitt könnte der Eindruck entstehen, es bedürfe eines immensen Textaufwands für die Wahlordnung einer kandidatenfreien Persönlichkeitswahl. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wahlordnung kommt mit zehn Paragraphen aus, die zudem einen relativ geringen Umfang haben.
Rangfolge der „Güte“
Bei der Monopolaufsicht durch Antimonopole geht es um diffizile Aufgaben. Sie muss deshalb von hochqualifizierten Leuten wahrgenommen werden. Sonst ist ein Antimonopol kein Machtinstrument zur Zügelung eines Monopols. Die Aufgabenstellung der Ombudsleute verlangt als Anforderungsprofil eine umfassende Kenntnis hinsichtlich der Einschätzung und Prüfung der Qualität des Tauschguts, einen souveränen Überblick über die Wirtschaftlichkeit des Betriebs und da-rüber hinaus Verhandlungsgeschick beim Abschluss der Verträge zwischen Monopolgutlieferanten und Monopolgutabnehmern. Dies alles muss fachbezogen sein. Es erfordert Umsicht und Erfahrung. Ähnlich verhält es sich bei den Juroren. Man sollte nicht hoffen, die erforderliche Umsicht und Erfahrung innerhalb eines Antimonopols gleich hundertfach vorzufinden, wie das offenbar die Befürworter des Parlamentarismus für möglich halten (in Deutschland gibt es mindestens 60.000 Parlamentarier auf allen politischen Ebenen. Diese Anzahl ist neuerdings (2018) im Bundesparlament noch einmal kräftig angewachsen).
„Wir können mit Plato übereinstimmen, dass das beste System dasjenige wäre, in dem die Klügsten und Gütigsten regieren“, meint der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Stanislav Andreski (1977), „aber niemand hat bis jetzt eine praktikable Methode gefunden, einen solchen Zustand herbei zu führen.“ Somit stellt sich ein weiteres Mal die Frage: Wie findet man die „klügsten und gütigsten“ Leute und wodurch erlangen sie ihre Legitimation?
Weil zu erwarten ist, dass die Qualitätsanforderungen sowohl in ökonomischer als auch in juridischer Hinsicht die Möglichkeiten vieler Monopolnutzer übersteigen, wird man die für die Monopolkontrolle geeigneten Leute auswählen müssen. Eine solche Auswahl muss, soll sie wirklich „die Guten“ an die Spitze bringen, durch ein ganz anderes Regulativ bestimmt sein als durch die heute geltenden Wahlgesetze. Das Regulativ muss eine Qualitätsauswahl gestatten.
So wie bei der Wettbewerbswirtschaft die Qualität einer Leistung bzw. eines Produkts zur Auswahl steht, muss hier die Qualität der Repräsentanten („Professionalität“) zur Auswahl stehen.
Eine sehr kleine Gesellschaft, besonders wenn das die enge Lebensgemeinschaft einer face-to-face-society ist, bietet die idealen Voraussetzungen für die Auswahl von wofür auch immer qualifizierten Leuten. Jeder kennt hier jeden. Jeder weiß vom anderen, ob und wie dieser in der Lage ist, eine Situation richtig zu beurteilen, sein Leben zu meistern, mit den anderen zurechtzukommen usw. In der Regel lässt sich hier ohne Umschweife auf direktem Wege bestimmen, wer vor den anderen in irgendeiner Beziehung ausgezeichnet sein soll. Optimal ist eine solche Auswahl, weil sie am ehesten bewirkt, dass Professionalität an die Spitze kommt.
Die in kleinen überschaubaren Menschengruppen vorfindbaren Verhältnisse fehlen in Großgesellschaften. Das Haupthindernis für die Auswahl der Besten ist hier die Anonymität der zu Wählenden. Sie verhindert ein Urteil darüber, ob die Kandidaten hinreichend qualifiziert für die ihnen aufzutragenen Aufgaben sind. Bei dem Bestreben, den Wahlmodus zu verbessern, muss also in erster Linie beim Anonymitätsproblem angesetzt werden. Wie kann eine Personenauswahl so organisiert werden, dass die erforderliche Bekanntheit der Zu-Wählenden („Votationsluzidität“; s. o.) gegeben ist?
Ist es schon schwierig und erfordert mannigfache ökonomische Kenntnis, sich im Kleinen am Markt zu behaupten. Um wieviel mehr Erfahrung und Übersicht gehört dazu, eine Einrichtung zu beaufsichtigen und mit ihr zu verhandeln, die eine ganze Gesellschaft (eine „Polis“; s. Teil 33 #freie-gesellschaft) mit Gütern versorgt. Ist es schon schwierig und setzt viel Wissen voraus, im engsten Lebenskreis andere gerecht zu behandeln. Wie viel mehr an Fähigkeiten erfordert es, die Gerechtigkeit von Gerichtsurteilen zu überprüfen und bei Bedarf zu revidieren. Großer Erfahrungsreichtum ist vorauszusetzen, damit ein Antimonopol der Monopolmacht gegenüber effizient ist und seine Repräsentanten gute Politik machen. Man hat in diesem Zusammenhang zu Recht von einer Kunst gesprochen und die Politik die „größte aller Künste“ genannt.
Die „größte aller Künste“ erfordert entsprechende Kunstfertigkeit. Aber wer soll die besitzen? Hier gibt es für eine wahrhaft demokratische Gesellschaft nur eine Antwort: die in aller Freiheit dafür Ausgewählten! Es ist möglich, dass das nicht immer die Besten sind. Damit muss ein radikales Demokratieverständnis leben. Jedenfalls wird sich eine freie Gesellschaft nicht den Thesen eines Auguste Comte anschließen dürfen, der in seinem „System der Politik“ eine Regentschaft von Experten fordert, die das Zusammenleben der Individuen nach eigenem Dafürhalten „despotisch“ regeln sollen.
Der Demokratiegesichtspunkt muss in einer wahrhaft freien Gesellschaft stets vor dem Qualitätsgesichtspunkt rangieren, d. h. „better Self-government than Good-government“. Dennoch ist es nützlich, ein Modell für Gruppenstrukturierungen, d. h. einen Wahlmodus zu haben, bei dem besondere Fähigkeiten innerhalb der Gruppe an die Spitze gelangen. Eine Wahl muss nicht nur allgemein, gleich und frei sein, sondern auch so eingerichtet, dass Leute gewählt werden können, die sich durch Eignung und Professionalität vor den anderen auszeichnen.
Die Aristokratie, so wie sie im Altertum ursprünglich verstanden wurde, war die „Herrschaft der Besten“ (also nicht die Herrschaft eines Erbadels!). Aristoteles unterscheidet sie von der Ochlokratie, als der Herrschaft des Pöbels. Beide Herrschaftsformen basieren auf Wahlen.
Eine kandidatengebundene Listenwahl wird wohl nur eine Ochlokratie hervorbringen. Anders die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl. Sie bewirkt eine sich stets erneuernde Qualitäts-Aristokratie. Der Aufbau einer kandidatenfreien Persönlichkeitswahl beweist, dass Eliteherrschaft und Demokratie durchaus zusammengehen können.
Wenn in einer Wählergruppe jeder ohne Rücksicht auf vorher aufgestellte Kandidaten denjenigen wählt, den er bezüglich der vorgesehenen Aufgabe für besser geeignet hält, als sich selbst, dann erhöht sich bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl pro Wahlakt der Qualifikationsgrad in dem Maße, in dem die Gewählten innerhalb der Gruppenstruktur nach oben und schließlich an die Spitze gelangen. Das eigentümliche Machtgefüge, das durch die Wahlakte aufgrund von Votationstransfer und Votationskumulation entsteht, potenziert gewissermaßen die Qualifikation innerhalb der Wählergruppe.
Noch verstärkt wird dieser Effekt durch die Möglichkeit des permanenten Abwählens und Neuwählens (Votationspermanenz). Dadurch kann sichtbar gewordene Unfähigkeit sofort getilgt werden.
Ein weiterer wichtiger Effekt im Hinblick auf die Qualitätsauswahl ist, dass man für jeden speziellen Aufgabenbereich einen separaten Wahlgang hat. Die Separation der Wahl ermöglicht, Qualifikationsvielfalt zu berücksichtigen. Die Repräsentanten können für jeden Aufgabenbereich gesondert, und zwar fachgerecht gewählt werden. Somit kann für jede besondere Aufgabe die dazu passende Qualifikation bereitgestellt werden.
Die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl schafft eine Rangordnung aufsteigender Güte. Eine Vorherbestimmung des „Besseren“ gibt es nicht, weil es keine Vorauswahl von Wahlkandidaten gibt. Die Auswahl der Eliten ereignet sich naturwüchsig und spontan. Die Rangordnung der Güte entsteht in aller Stille und nahezu wie von selbst.
Bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl steht der Aspekt der Qualität im Vordergrund: Wer soll in einer Rangordnung der Güte vor mir stehen? Bei der kandidatengebundenen Listenwahl hingegen steht der Aspekt der Quantität (Mehrheitsaspekt) im Vordergrund: Welcher Kandidat soll die meisten Stimmen erhalten, also auch meine? Das ist der Grundzug aller Mehrheitswahlsysteme. Mit diesen Systemen verbindet man gern die Vorstellung von idealer Demokratie. Das ist nach allem, was ich bisher ausgeführt habe, nicht gerechtfertigt.
Die Qualität der Repräsentanten in ihrer Rolle als Ombudsleute bemisst sich daran, inwieweit sie im Stande sind, das Leistungs-Gegenleistungs-Gefüge beim Tausch mit Monopolen zu beurteilen. Hier ist Wirtschaftskenntnis gefragt. Die Qualität der Repräsentanten in ihrer Rolle als Juroren bemisst sich daran, inwieweit sie im Stande sind, die Korrektheit der Rechtsentscheide bei Gerichten zu prüfen. Hier sind Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit gefragt.
Aber mehr in Teil 41 in #freie-gesellschaft
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